AUTOMOBILINDUSTRIE : AMERIKANISCHE WRACKS BEKOMMEN IN DER UKRAINE EIN ZWEITES LEBEN

In einer Garage in Dnipro bringen leidenschaftliche Tüftler Elektroautos mit Totalschaden aus den USA auf Vordermann. Das Geschäft boomt – und der Grund ist ausgerechnet der Krieg.

Vor sechs Monaten war Max Wolkows Tesla Y in einem traurigen Zustand. In den USA war das weiße Elektroauto in einen Unfall geraten. Der linke Kotflügel wurde abgerissen, die Fenster waren zersplittert. Totalschaden. Doch nun sitzt der junge Mann am Steuer und lenkt den Wagen stolz durch eine Garage in Dnipro. Der Tesla ist frisch gewaschen, der grün metallisierte Lack glänzt. Totalschaden? Das ist in der Ukraine ein Zustand, der sich beheben lässt.

Mehrere tausend wiedergeborene Teslas fahren deshalb auf den Straßen des Landes. 64.000 Elektroautos gibt es, doppelt so viele wie 2021 und fast 20.000 mehr als im bevölkerungsmäßig ähnlich großen Polen. Bereits vor drei Jahren war die Ukraine der drittgrösste Importeur von Gebrauchtwagen aus den USA. Der Boom hält seither an – wegen des Krieges und einer aus Sowjetzeiten geerbten Improvisationskunst.

Die Angst der Westler vor der Batterie

Bevor er in der Ukraine auferstehen konnte, musste Wolkows Tesla aber eine Odyssee absolvieren. Nach dem Unfall inspizierte eine amerikanische Versicherung den Wagen. Sie schrieb ihn ab, weil sie eine Reparatur zu aufwendig und gefährlich fand.

Das lag vor allem an der Batterie: Ist sie beschädigt, fassen sie die Mechaniker nicht mehr an. Laut dem Portal „arstechnica“ fürchten selbst Spezialisten Stromschläge und giftige Dämpfe. Zudem kann niemand garantieren, dass die Batterie danach wieder wie neu funktioniert. Das ist im klagefreundlichen Land Grund genug, den Versicherten ein neues Auto zu zahlen und das alte zu entsorgen.

Der Tesla nahm also den billigsten Weg: Er ging als Elektroschrott in den Export. Und hier kamen die Ukrainer ins Spiel. Ein Bekannter von Max Wolkow, der als Zwischenhändler agiert, kaufte den Unfallwagen. Da er zwar stark beschädigt war, aber keine strukturellen Schäden hatte, zahlte er 17.400 Dollar. Für weitere 10.000 organisierte er den Transport über den litauischen Ostsee-Hafen Klaipeda nach Dnipro. Dort brachte ihn die Garage auf Vordermann. Gesamtkosten: 33.000 Dollar – mehr als ein Drittel weniger als der Neupreis.

Auch wenn das viel Geld ist in der Ukraine, gibt es in der Mittelschicht genug Kunden, damit der Betrieb von Olexander Obuchow läuft. Seine Garage hat sich auf Teslas spezialisiert, weil das Preis-Leistungs-Verhältnis das beste aller Marken sei. Bis zu 100 überholte Fahrzeuge verlassen jeden Monat die Werkhalle. Dabei gibt es eine klare Aufgabenteilung zwischen Obuchow und seinem Geschäftspartner. „Ich bin der Mann fürs Metall, er hackt die Software.“

Ohne diesen, wie er sagt, „etwas tieferen Eingriff ins Betriebssystem“ würde der Tesla gar nicht anspringen. Auf dem Display eines fast fertigen Wagens in der Werkstatt steht neben dem Steuerrad „factory mode“. Doch statt den Tesla-Ingenieuren steuert Obuchow die Software über sein eigenes Tablet. Legal im engeren Sinne ist das nicht. Doch da die Firma in der Ukraine keine offizielle Vertretung hat, sind die digitalen Piraten keine direkte Konkurrenz.

Die Ukrainer kriegen kaum Tesla-Originalteile

Noch grundlegender überholen die Mechaniker die Hardware. Im Hinterhof wartet ein Dutzend Wracks, daneben stehen säuberlich sortierte Chassis, Stossstangen, Türen und Radkappen. Weggeworfen wird möglichst nichts, repariert fast alles: Originalteile zu bekommen, ist nämlich das grösste Problem: Tesla liefert nicht direkt in die Ukraine, andere Kanäle sind teuer und rar. Laut Obuchow behelfen sich viele Landsleute mit chinesischen Komponenten. Diese seien aber schlechter.

In der Werkhalle stehen Dutzende von Autos in verschiedenen Zuständen herum. Einem fehlen die Räder, einem anderen die Scheiben. Dem Tesla Y auf der Hebebühne über ihm hat Kostja Kobez sogar das gesamte Batterie-Modul ausgebaut. Es liegt nun in Form von rechteckigen Platten aus Plastik und Metall offen vor ihm.

„Unser Kunde hat das bei einer billigeren Garage reparieren lassen, und die haben alles schludrig zusammengebaut“, sagt der 36-Jährige. Kondenswasser geriet in die Batterie, sie gab den Geist auf. Nun nimmt Kobez alles auseinander und reinigt die Einzelteile in Handarbeit. Billiger sei es nun für den Besitzer nicht geworden, fügt er trocken an.

Als Spezialist für die schwierigen Fälle in der Garage pröbelt Kobez oft lange, um einem Problem auf den Grund zu gehen. Er hat aber eine klare Philosophie: „Wenn ich etwas mit den Fingern ausprobiert habe, bleibt es in meinem Kopf.“

Eine profitable Nische für große Kinder

Das ist durchaus wörtlich gemeint, wenn er Tesla-Batterien mit einer Spannung von 400 Volt anfasst. „Haut wächst nach“, kommentiert der Liebhaber schneller Motorräder die Frage nach dem Risiko. Und: „Je gefährlicher, desto interessanter.“ Kobez betont aber auch, dass sie in der Garage nie einen schweren Arbeitsunfall hatten.

Wir wollen die Ersten sein, die ein schwieriges Problem lösen

In ihrer Tesla-Nische verdienen die Mechaniker von Dnipro Geld, was in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit keineswegs selbstverständlich ist. Doch zuweilen hat man auch das Gefühl, hier kämen eher Jungs zusammen, um ihrem Hobby nachzugehen. Die Mechaniker diskutieren leidenschaftlich gern über die Autos und tauschen sich mit Enthusiasten in der Ukraine und im Ausland über technische Details aus.

„Wir sind erwachsene Kinder“, sagt Kobez. Früher saß er mit Freunden stundenlang um Motoren herum, baute sie auseinander und wieder zusammen, in der Tradition der sowjetischen Auto-Enthusiasten, die ihre gesamte Freizeit so verbrachten. Vor dem Krieg bastelte er auch mit Russen an Ladas rum, heute nur an Teslas und ukrainischen Modellen.

Auch für Olexander Obuchow geht es nicht nur um den Profit. „Wir wollen die Ersten sein, die ein schwieriges Problem lösen, wie im Sport“, sagt er. Neben der Arbeit baute er an seinem eigenen Tesla. Bereitwillig nimmt er die Journalisten auf eine Spritzfahrt mit und beschleunigt den Wagen auf eine Geschwindigkeit, die deutlich über dem Tempolimit liegt. Als er ihn das erste Mal gefahren habe, sei das wie ein Festtag gewesen, sagt der Mann fürs Metall. „Für unsere Kunden ist es ähnlich.“

Elektroauto-Boom im Krieg

Die ukrainische Technik-Leidenschaft reicht aber nicht als Erklärung für den Boom der Elektroautos. Diese treffen auch auf gut ausgebaute Strukturen: So gibt es im Land ein recht dichtes Netz von 3200 öffentlichen Ladestationen. Ausserdem hat die Regierung 2018 fast alle Importsteuern und Abgaben auf Gebrauchtwagen aufgehoben, was die Preise besonders für die Elektroautos vergleichsweise niedrig hält.

Die entscheidende Rolle spielte aber der Krieg. Nach Russlands Invasion stiegen die Benzinpreise zeitweise um fünfzig Prozent. Bis heute liegen sie höher als davor. Die Krise bedeutet, dass selbst die Mittelschicht weniger Geld hat. Strom bleibt hingegen günstig. So sagt der frischgebackene Tesla-Besitzer Max Wolkow, er könne seinen Wagen mit Nachtstrom für umgerechnet 2.37 Euro vollladen. Das ist gleich viel wie zwei Liter Benzin.

Nicht einmal die heftigen russischen Angriffe auf die Energieversorgung können der Popularität der Teslas etwas anhaben. Im letzten Winter, als es deshalb verbreitet zu Stromausfällen kam, sei die Nachfrage in seiner Garage zwar vorübergehend zurückgegangen, erinnert sich Obuchow. „Aber sobald es warm wurde, standen die Leute wieder an.“ Ihre Leidenschaft für schicke Autos lassen sich die Ukrainer nicht nehmen.

Erstpublikation: 20.04.2024, 15:05 Uhr

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