DAS RäTSEL UM DEUTSCHLANDS PROMINENTESTE STRAFVERFOLGERIN

Anne Brorhilker ist die bekannteste Kämpferin gegen Finanzkriminalität in Deutschland. Seit 2013 war die Staatsanwältin Kopf der Cum-Ex-Ermittlungen. Nun geht sie überraschend. Ihre Abschiedsworte werden zur Abrechnung. Für die Ermittlungen bietet sich jetzt aber eine Chance.

Dass eine Beamtin nach Jahrzehnten im Staatsdienst ihren Abschied einreicht, ist an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass der Westdeutsche Rundfunk ihr zu diesem Anlass ein ausführliches Interview einräumt, ist ein Signal fast schon zeitgeschichtlicher Relevanz. Anne Brorhilker nutzt diesen Anlass noch einmal für eine Art letzter Abrechnung.

„Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird“, klagt Brorhilker. Da gehe es oft um Täter mit viel Geld und guten Kontakten, die auf eine schwach aufgestellte Justiz träfen. Auch wenn sie es so ausdrücklich nicht sagt, ist der Subtext klar: Ohne sie, die Leitende Oberstaatsanwältin aus Köln, wird die Justiz noch ein Stück schwächer.

Tatsächlich war die 50-Jährige in den vergangenen Jahren zur vermutlich prominentesten Strafverfolgerin Deutschlands avanciert. Ende 2021 kürte sie die Nachrichtenagentur „Bloomberg“ gar zu einer der 50 wichtigsten Personen der Weltwirtschaft. Grund dafür war ihre Rolle bei der Aufklärung der Cum-Ex-Deals, jenen Aktientransaktionen, mit denen Banker, Anwälte und Fondsmanager den deutschen Staat zwischen 2006 und 2011 um wohl mindestens zehn Milliarden Euro geprellt haben.

Brorhilker hat die Aufklärung dieser Tricksereien mit nimmermüder Akribie und gegen viele Widerstände entscheidend vorangetrieben. Ob ihr Abschied nun aber wirklich ein dramatischer Schlag für deren weitere Aufarbeitung ist, ist dennoch nicht abgemacht. Denn schon länger lief es nicht mehr wirklich rund, die Staatsanwaltschaft ist weit hinter dem eigenen Zeitplan zurück. Brorhilkers zu diesem Zeitpunkt unerwarteter Ausstieg kann deshalb auch eine Chance für einen Neuanfang sein.

Seit Brorhilker 2013 mit den Ermittlungen loslegte, hat der Cum-Ex-Komplex gigantische Dimensionen angenommen. In rund 120 Verfahren wird gegen 1700 Beschuldigte ermittelt. Im Bonner Stadtteil Siegburg baut die Justiz ein eigenes Gerichtsgebäude, in dem die Verfahren ab dem Herbst verhandelt werden sollen.

Die Bündelung im nicht gerade für seine Finanzindustrie bekannten Rheinland hat einen Grund: Das Bundeszentralamt für Steuern ist in Bonn ansässig, die Kölner Staatsanwälte können deshalb bundesweit in Sachen Cum-Ex ermitteln. In der deutschen Bankenhauptstadt Frankfurt sind deutlich weniger Verfahren anhängig.

Die enorme Zahl der Ermittlungen soll auch ein Signal dafür sein, dass penible Aufarbeitung über alles geht. Kein Hinweis soll unbeachtet bleiben, jeder Strang verfolgt werden. Selbst Vernommene, an denen nichts hängen geblieben ist, erinnern sich mit Schaudern an ihre vielstündigen Termine bei den Kölner Strafverfolgern.

Akribie und Härte, so haben es Landespolitiker verkündet, sollen auch das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken. Straftäter aus der Finanzwelt sollen nicht nur deshalb milde davonkommen, weil die Materie komplex ist und sie sich – anders als Ladendiebe oder Kneipenschläger – besonders gewiefte Anwälte leisten können.

Tatsächlich geht es wohl auch darum, Versäumnisse der Politik zu übertünchen und wiedergutzumachen. Schließlich hatten es wechselnde Finanzminister in Berlin trotz mehrerer Hinweise über Jahre unterlassen, den Machenschaften einen Riegel vorzuschieben.

Nur ein Bruchteil der Verfahren ist bisher zur Anklage gekommen

Lange war deshalb unklar, ob es sich bei den Deals überhaupt um Straftaten oder bloß um das clevere Ausnutzen einer Regelungslücke handelte. Erst im Sommer 2021 entschied der Bundesgerichtshof, dass Cum-Ex-Transaktionen kriminell waren. Das Verfahren, das zu diesem Urteil führte, hatte Brorhilker angestoßen. Seitdem war der Weg für sie und ihre Kollegen frei.

So weit wie geplant sind die aber noch lange nicht vorangekommen. Nur ein Bruchteil der Verfahren ist bisher zur Anklage gekommen, die meisten von ihnen drehen sich um die Vorkommnisse bei der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. Bei der ist das öffentliche Interesse schon deshalb besonders groß, weil deren langjähriger Vormann Christian Olearius sich in Sachen Cum-Ex an den damaligen Ersten Bürgermeister und heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz gewendet hatte.

Seitdem steht der Vorwurf einer möglichen unzulässigen Einflussnahme auf die hanseatischen Steuerbehörden im Raum, Scholz konnte ihn auch durch zahlreiche Dementis und Verweise auf Erinnerungslücken nicht ausräumen. Die Grundlage für die Vorwürfe gegen den Kanzler lieferten Tagebücher Olearius’, die Brorhilkers Beamte bei einer Durchsuchung beschlagnahmt hatten. Dass diese teilweise öffentlich wurden, hat Olearius kürzlich einen Teilerfolg in einem Prozess um Schadenersatz eingebracht.

Für Kritiker aus dem Lager der Beschuldigten ist die Tatsache aber vor allem ein Beleg dafür, dass die Staatsanwaltschaft Medien gezielt mit belastendem Material versorgt. Ein Auftritt Brorhilkers in einer WDR-Dokumentation soll das ebenfalls belegen. Und das ist nur einer von vielen, teilweise persönlichen Vorwürfen, mit denen die Juristin in den vergangenen Jahren konfrontiert war.

Brorhilkers Leuten stand eine Riege von Spezialanwälten gegenüber

Dabei kämpfte sie immer mit ungleichen Waffen. Mit mehr als 30 Staatsanwälten ist Brorhilkers Abteilung nicht so unterbesetzt, wie man es nach ihren Aussagen im Interview erwarten könnte. Ihren nach der Besoldungsordnung bezahlten Leuten steht jedoch eine Riege erfahrener Spezialanwälte gegenüber. So setzt Olearius im laufenden Strafprozess auf gleich vier Verteidiger, unter ihnen den früheren CSU-Spitzenpolitiker Peter Gauweiler. Assistiert wird diesen noch von Zuarbeitern und Kommunikationsberatern.

In den Verhandlungen geht es oft um Details, um Fundstücke aus einem schier unerschöpflichen Reservoir von potenziellen Beweisstücken. Und um eine enorm komplexe Materie. Zuletzt sorgten bisher unbekannte Ungereimtheiten im Terminkalender des als Kronzeuge fungierenden früheren Kompagnons des bereits verurteilten Rechtsanwalts Hanno Berger für Irritationen. Seitdem ist das Verfahren vorerst ausgesetzt. Ob das eine Rolle beim Abgang der Juristin spielt, ist offen.

Klar ist, dass die enorme Komplexität die Aufarbeitung der Fälle immer weiter verzögert. Aus umfangreicher Korrespondenz und Tabellen muss ermittelt werden, was genau passiert ist und wer dabei welche Rolle gespielt hat. Tatsächlich ist oft unklar, ob ein Beschuldigter das Geschehen komplett überblickt oder bloß unachtsam ein Dokument unterschrieben hat.

Von der Schadensumme deutlich bedeutendere Komplexe – etwa um die damaligen Landesbanken HSH Nordbank und WestLB – harren deshalb auch gut 15 Jahre nach den vermeintlichen Taten der juristischen Aufarbeitung. Auch die Rolle der Deutschen Bank, die ihre Verwicklung als unwesentlich dargestellt hat, ist bis heute unklar.

Die von Brorhilker nun wieder beklagten fehlenden Ressourcen dürften nur eine Ursache dafür sein. In der Justiz hieß es schon vor Monaten, dass es auch interne Gründe dafür gebe, dass es nicht so richtig vorangehe. Brorhilker werde nicht nur ausgebremst, sondern bremse mit ihrer Detailversessenheit womöglich auch selbst. Überlegungen, weniger relevante Fälle zügig abzuarbeiten und womöglich in größerem Stil gegen Geldbußen einzustellen, soll sie wenig zugeneigt gewesen sein.

Auf Betreiben des nordrhein-westfälischen Justizministers Benjamin Limbach sollte Brorhilkers Abteilung im vergangenen Herbst aufgespalten werden. Neben ihr wäre dann ein weiterer Strafverfolger in gleichem Rang installiert worden. Die fleißige Staatsanwältin verstand das wohl als Misstrauensvotum, manche sahen darin den Versuch, eine womöglich auch politisch unliebsame Ermittlerin gezielt auszubremsen. Nach heftiger Kritik wurde die Entscheidung wieder rückgängig gemacht, Brorhilker erhielt sogar mehr Personal. Des Rückhalts der Politik konnte sie sich von diesem Zeitpunkt an wohl nicht mehr sicher sein.

Eine neue Aufgabe hat Brorhilker bereits gefunden – als Geschäftsführerin bei der vom früheren Finanzpolitiker der Grünen, Gerhard Schick, gegründeten Verein Finanzwende. Der setzt sich seit 2018 für Reformen der Finanzbranche ein – und feiert den Neuzugang als echten Coup. Wie die Organisation auf ihrer Website mitteilt, hatte sie im April 2023 eine Stelle „Bereichsleitung Finanzkriminalität“ ausgeschrieben, auf die sich Brorhilker im Herbst beworben habe. Für ihre Kritiker beweist das endgültig, dass die Staatsanwältin schon immer nicht nur Juristin, sondern auch Aktivistin war.

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