„EINE SCHANDE“: LEERSTAND IN KASSEL LAUT FORSCHERN GRAVIEREND

300 Immobilien identifiziert

„Eine Schande“: Leerstand in Kassel laut Forschern gravierend

Problematischer Leerstand: Ein Uni-Projekt hat in Kassel 220.000 Quadratmeter ungenutzter Flächen ermittelt.

Kassel – Wohnungsnot, hohe Mieten und stockender Neubau: Nicht nur Kassel steht vor diesen Problemen. Fast alle Großstädte haben mehr oder weniger damit zu kämpfen. In einem Forschungsprojekt am Fachgebiet „Architektur Stadt Ökonomie/ Bauwirtschaft und Projektentwicklung“ an der Uni Kassel befassen sich Wissenschaftler und Studenten seit drei Semestern mit dem Leerstand in Kassel.

Dazu haben sie diesen zunächst systematisch erfasst und Konzepte erarbeitet, wie dieser unter anderem zu dringend benötigtem Wohnraum entwickelt werden kann. Bei einer heutigen Veranstaltung werden die Ergebnisse im Labor für Nachhaltigkeitsfragen (SDG+ Lab) an der Wilhelmstraße präsentiert.

Leerstand in Kassel gravierend: 300 komplett oder teilweise leer stehende Immobilien identifiziert

Im Zuge einer aufwendigen Recherche wurden bisher in dem Projekt über 300 komplett oder teilweise leer stehende Immobilien identifiziert – darunter rund 30 große Gebäudekomplexe wie Salzmann, das alte Polizeipräsidium oder die Neue Hauptpost. Herausgerechnet wurden Gebäude, die aufgrund von Sanierungen oder Mieterwechseln kurzfristig nicht zur Verfügung stehen. „Nach unserer Schätzung sind es über 220 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche, die aktuell leer stehen“, sagt Professorin Gabu Heindl, die das Fachgebiet seit zwei Jahren leitet. Natürlich seien nicht alle Flächen geeignet, um daraus Wohnraum zu machen. Aber das Potenzial liege bei etwa 2400 Wohnungen. Diese Ressourcen müssten mithilfe von Stadt und Land dringend genutzt werden, um die Wohnungsnot zu bekämpfen. „Es ist doch eine Schande, dass es so viele Wohnungslose gibt.“

Gegen Leerstand: Kassel könnte Bestandsimmobilien umnutzen

Heindl sieht in der Umnutzung von Bestandsimmobilien einen wichtigen Beitrag, damit die Stadt Kassel ihren berechneten Bedarf von 800 Neubauwohnungen pro Jahr, erreichen kann. Dabei gelte es, soziale und ökologische Aspekte zu berücksichtigen. Der hohe Flächenverbrauch müsse gestoppt werden. Wenn die Stadt, wie vom Klimaschutzrat gefordert, die Netto-Null-Versiegelung anstrebe, gehe es nur durch Innenentwicklung und Umbau.

Politik in Kassel soll gegen Leerstand Spielräume nutzen

Aber wie sollen Immobilieneigentümer motiviert werden, ihre Gebäude zu beleben? Dafür müsse die Politik ihre Spielräume stärker nutzen, findet die aus Wien stammende Professorin. Zwar sei das Eigentum durch Artikel 14 Grundgesetz geschützt, gleichzeitig heiße es aber dort auch, dass es die Eigentümer verpflichte und dessen Gebrauch dem Allgemeinwohl dienen solle.

Heindl kritisiert deshalb, dass in Hessen im Jahr 2004 das Zweckentfremdungsgesetz außer Kraft gesetzt wurde. Mit dessen Hilfe könnten Eigentümer sanktioniert werden, die Wohnraum umnutzen (etwa durch die Umwandlung in Ferienwohnungen) oder diesen systematisch leer stehen lassen. Einige Großstädte wie Berlin nutzten dieses Mittel, um durch Abgaben die Eigentümer an ihre gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern. Jedes leer stehende Haus verursache Infrastrukturkosten (öffentliche Leitungsnetze, Verkehrsanbindung etc.), die zwar von der Allgemeinheit getragen werden müssten, aber für diese keinen Nutzen brächten.

Gegen den Leerstand in Kassel: Forscher nennen mögliche Lösungen

Angesichts der Notlage müsse die Politik auch das „demokratische Instrument der Enteignung“ als letztes Mittel in Betracht ziehen. Diese bedeute zwar einen Verkaufszwang, aber zu marktüblichen Preisen. Letztlich werde bei vielen Straßenbauprojekten enteignet mit Verweis auf ein öffentliches Interesse. Beim Wohnungsbau gebe es dieses schließlich auch – vielleicht sogar noch ein größeres.

Bei der Präsentation der Ergebnisse gehe es explizit nicht darum, Eigentümer an den Pranger zu stellen, sagt Heindl. Vielmehr solle eine offene Diskussion über eine bessere Nutzung des Bestands begonnen werden. Deshalb würden alle Adressen geschwärzt. Lediglich die großen leer stehenden Gebäudekomplexe sollen benannt werden. Aber diese seien ohnehin offensichtlich. (Bastian Ludwig)

Termin: „Kassel steuert? Leerstand reaktivieren!“ am Donnerstag, 18. April, 18.30 Uhr. Ort: SDG+ Lab, Wilhelmstraße 21

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