HABECK WURDE BEIM ATOMAUSSTIEG OFFENBAR VON SEINEN EIGENEN LEUTEN GETäUSCHT

Das Wirtschaftsministerium hat die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke gegen die Bedenken der eigenen Experten veranlasst. Darauf deuten interne Dokumente hin. Nach Recherchen des Magazins „Cicero“ hatten Spitzenbeamte die Warnungen offenbar sogar vor dem Minister geheim gehalten.

Der „Vermerk“ aus der Fachabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums trug das Datum 3. März 2022. Laut Betreff ging es um die „Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken bis 31.3.2023, hier: Vorläufige energiewirtschaftliche Bewertung.“

Die Energieexperten des Ministers Robert Habeck (Grüne) sollten mit diesem Vermerk die Hausleitung in einer wichtigen Frage beraten: Ist es zu rechtfertigen, mitten in einer ausgewachsenen Energiekrise die letzten drei deutschen Atomkraftwerke abzuschalten?

Fünf Tage später, am 8. März 2022, hatten Wirtschaftsminister Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) diese Frage für sich geklärt. Sie gingen an diesem Tag mit einem „Prüfvermerk“ in die Öffentlichkeit. Ihr Ergebnis: Eine Laufzeitverlängerung für die drei AKW sei „nicht zu empfehlen.“

Es war dieser Prüfvermerk, der das Ende des Atomzeitalters in Deutschland besiegelte – auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) später noch eine kurze Laufzeitverlängerung bis April 2023 per Richtlinienkompetez durchsetzte.

Was immer den Wirtschaftsminister dazu bewogen hatte, die Abschaltung der Meiler für unbedenklich zu halten: Die Fachleute seines eigenen Hauses waren es nicht. Darauf deutet der interne Schriftverkehr hin, dessen Herausgabe das Magazin „Cicero“ in einem fast zweijährigen Rechtsstreit jetzt vor Gericht erzwungen hat. WELT konnte in einige der Originaldokumente Einsicht nehmen.

Energiekrise entschärfen, Risiken minimieren

Aus ihnen geht hervor, dass Habecks Fachabteilung die Abschaltung der Meiler durchaus für bedenklich hielt. Sie wiesen deutlich darauf hin, dass der Weiterbetrieb der Meiler die Energiekrise entschärfen und Risiken minimieren würde.

„Es ist heute unklar, ob für den nächsten Winter ausreichend Erdgas eingespeichert werden kann, um einen tagelangen Betrieb von Gaskraftwerken neben dem Verbrauch in der Industrie und zu Wärmeversorgung zu ermöglichen“, warnten die Beamten. Sollte dies nicht der Fall sein, stehe „zwar ausreichend Kraftwerksleistung zur Verfügung, um die Last zu decken, aber ggf. nicht genug Erdgas um die Kraftwerke zu betreiben.“

Und dann wörtlich: „Eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke bis zum 31.3. (2023, die Red.) kann helfen, diese Situation zu entschärfen.“

In bestimmten Wettersituationen, die vor allem im Januar und Februar auftreten, so Habecks Fachleute weiter, „würden die drei derzeit noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke bis zu 4 GW Gaskraftwerke aus der Merit-Order verdrängen und deren Gasverbrauch entsprechend reduzieren.“ Entsprechend könnten dadurch auch „die Strompreise in vielen Stunden sinken“.

Dass die AKW-Abschaltung einen preistreibenden Effekt hat, wird damals wie heute von Atomkraftgegnern bestritten. Ignoriert wird dabei die Tatsache, dass die Herausnahme von 4 Gigawatt Kraftwerksleistung aus der „Merit Order“ genannten Einsatzreihenfolge der Strombörse zwangsläufig Gaskraftwerke am teuren Ende ins System zieht. Nur die Energieexpertin Veronika Grimm, ein Mitglied des Sachverständigenrats der Bundesregierung, hatte seinerzeit in einer Studie auf den preistreibenden Effekt der AKW-Abschaltung hingewiesen und dessen Höhe berechnet.

Damit teilte Grimm eine Einschätzung, die auch Habecks Fachabteilung hatte – doch nie in die Öffentlichkeit gelangte. Mehr noch: Nach Einschätzung der Beamten sei es sogar „äußerst risikoreich, die Stromerzeugung aus Erdgas im nächsten Winter ausschließlich durch die zusätzliche Stromerzeugung aus Reserven und bereits stillgelegten Kohlekraftwerken zu stützen.“

Denn Kohlemeiler als Reservekraftwerke „weisen aufgrund ihres Alters bekanntermaßen eine geringe Verfügbarkeit und viele Fehlstarts auf“, warnten die Fachleute: „In welcher Verfassung die stillgelegten Kraftwerke sind, ist weiterhin zum jetzigen Zeitpunkt unbekannt.“

Demnach war der Ersatz der Atomkraftwerke durch Kohlemeiler sogar mit einem beträchtlichen operativen Risiko verbunden. Die Empfehlung der Fachabteilung lautete daher: „Eine Laufzeitverlängerung der Kernenergie bis zum 31.3.2023 sollte als Vorsorgemaßnahme weiter geprüft werden, weil sie den Erdgasverbrauch im Stromsektor auf ein Minimum reduzieren kann.“

Habeck hatte offenbar keine Kenntnis von den Warnungen

Doch in den Händen des zuständigen Staatssekretärs verkehrte sich diese Aussage merkwürdigerweise in ihr Gegenteil. In ihrem gegenüber der Öffentlichkeit kommunizierten „Prüfvermerk“ kamen die Minister Habeck und Lemke entsprechend zu dem Schluss, dass „der energiewirtschaftliche Mehrwert einer Laufzeitverlängerung sehr begrenzt“ sei.

Atomstrom würde gegen die von Russland verursachte Gasknappheit nicht helfen, behaupteten Habeck und Lemke öffentlich nur fünf Tage nach der Warnung der eigenen Leute. „Ein Ersatz von Gasmengen findet (...) kaum statt“, da Gaskraftwerke „in einer Gaskrisensituation ohnehin kaum zum Einsatz kommen“, behaupteten die Minister nun: „Mit Blick auf die aktuelle Gaskrise kann die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke also nur einen begrenzten Beitrag leisten.“ Von dem vierseitigen Vermerk der Fachabteilung war praktisch nichts mehr übrig.

Nach Informationen des „Cicero“ hatte Habeck von den Warnungen seiner eigenen Fachleute vermutlich gar keine Kenntnis. „Cicero“-Redakteur Daniel Gräber, der die Herausgabe des Schriftverkehrs durchgesetzt hatte, fragte im Bundeswirtschaftsministerium nach, wem dort der vierseitige Vermerk aus der Fachabteilung bekannt war. Die schriftliche Antwort eines Habeck-Sprechers: „Der in Rede stehende Vermerkentwurf (3. März 2022) lag in der Leitungsebene nur Staatssekretär Patrick Graichen vor.“

„Hatte der es in der Schublade verschwinden lassen?“, fragt „Cicero“ in der aktuellen Titelgeschichte, die die regierungsinterne Diskussion um die AKW-Laufzeitverlängerung anhand der eingeklagten Dokumente minutiös nachzeichnet. Patrick Graichen war zu jener Zeit der für die Organisation der Energiewende zuständige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Habeck entließ ihn erst im Mai 2023 im Zuge des „Trauzeugenaffäre“ genannten Skandals um Vetternwirtschaft. Die finale Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke am 15. April 2023 konnte Graichen noch im Amt erleben.

2024-04-25T06:15:19Z dg43tfdfdgfd