HANDEL: DER HANDEL LEIDET, GRENZKONTROLLEN BREMSEN

Der Brexit hat die Lage für die meisten Unternehmen in Deutschland und Großbritannien verschlechtert, zeigt eine Umfrage, die dem Handelsblatt vorliegt. Neue Grenzkontrollen belasten den Handel weiter. Was Hoffnung macht.

„Wir bringen den Brexit zu Ende“: Mit diesem Versprechen gewannen die Konservativen 2019 die Parlamentswahlen in Großbritannien. Voraussichtlich im Herbst wird im Königreich erneut gewählt, und die Tory-Regierung von Premierminister Rishi Sunak würde das Versprechen gern auf ihrer Erfolgsbilanz verbuchen.

Allerdings belasten die Nachwirkungen des EU-Austritts die britische Wirtschaft stark – und auch andere Länder leiden unter den Folgen des Brexits.

Nach einer neuen Umfrage der British Chamber of Commerce in Germany (BCCG) und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, beklagen mehr als die Hälfte der 173 befragten Unternehmen in Deutschland und Großbritannien, dass sich ihre Lage seit dem Brexit weiter verschlechtert habe. Nur sechs Prozent sehen einen Aufwärtstrend.

KPMG-Vorstand Andreas Glunz sagt: „Der Rückgang des deutsch-britischen Handelsvolumens ist dramatisch. Seit dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 ist das Handelsvolumen von 38 Millionen Tonnen auf 22 Millionen Tonnen gesunken.“

Die Inflation habe diesen starken Rückgang nur verdeckt. BCCG-Präsident Michael Schmidt forderte die Regierungen in London und Berlin auf, „neue Brücken“ zwischen beiden Ländern zu bauen. „Ich warne vor einer weiteren Entkoppelung, gerade mit Blick auf die geopolitischen Herausforderungen.“

Großbritannien: Verstärkte Warenkontrollen an den Grenzen belasten Unternehmen und Bürger

Statt Brücken werden jedoch zunächst neue Schlagbäume an den Grenzen errichtet. Ende April beginnt Großbritannien mit verstärkten Warenkontrollen für importierte Lebensmittel und Pflanzen aus der EU. Ob Käse aus Italien, Milch aus Dänemark oder Schweinefleisch aus Deutschland – künftig müssen Firmen und Bauern auf dem Kontinent mit zusätzlichen Dokumenten die Herkunft und Qualität ihrer Produkte nachweisen, die sie nach Großbritannien liefern wollen.

Dieses sogenannte „Border Target Operating Model“, das die Briten aus Angst vor den damit verbundenen Kosten bereits fünfmal verschoben hatten, belastet nach der BCCG-Umfrage mehr als ein Drittel der befragten Unternehmen. Hierdurch würden zusätzliche Kontrollen und Dokumentationspflichten für bestimmte Produktgruppen wie Tiere, Pflanzen und Lebensmittel eingeführt.

„Es ist ein Mythos, zu glauben, der Brexit sei Vergangenheit und von den Unternehmen verkraftet“, warnt Glunz. Vielmehr würden in Großbritannien und der EU diverse Gesetze erlassen, die allesamt nicht harmonisiert seien. Für Unternehmen im deutsch-britischen Korridor werde dies zu erheblichen zusätzlichen Belastungen führen.

Anna Boata, Ökonomin bei Allianz Trade in Großbritannien, sagt: „Von den neuen Grenzkontrollen sind etwa 150 Importgüter im Wert von 21 Milliarden Pfund (knapp 25 Milliarden Euro) betroffen.“ Das entspreche etwa drei Prozent aller britischen Importe und fast acht Prozent der Importe aus der EU.

Die Handelsexpertin schätzt die zusätzlichen Kosten durch die neuen Kontrollen auf etwa zwei Milliarden Pfund und befürchtet, dass die Importpreise für Lebensmittel und Agrarprodukte in Großbritannien dadurch im Durchschnitt um zehn Prozent im ersten Jahr steigen könnten – die Inflation in Großbritannien, die im März auf 3,2 Prozent gefallen ist, bekäme dadurch neuen Auftrieb. Allianz Trade rechnet mit einem Schub von 0,15 Prozentpunkten.

Höhere Inflation durch die Kontrollen?

Die britische Regierung hingegen bestreitet, dass die neuen Kontrollen die Inflation wieder in die Höhe treiben könnten. Im vergangenen Jahr hatte sie die entstehenden Gesamtkosten für die britische Wirtschaft auf 330 Millionen Pfund pro Jahr geschätzt.

London steht damit im Widerspruch zur britischen Handelskammer, die mit spürbaren Zusatzkosten für britische Importeure rechnet und darauf hinweist, dass die Regierung für Sendungen von pflanzlichen und tierischen Erzeugnissen aus der EU bei der Einfuhr Gebühren von bis zu 145 Pfund erheben will.

William Bain, Handelsexperte bei der British Chamber of Commerce, kritisiert: „Die Höhe der Einfuhrabgaben nimmt kaum Rücksicht auf die Interessen von Unternehmen und Verbrauchern.“ Es drohten höhere Preise für alle, „und das zu einer Zeit, in der wir die Kosten der Unternehmen und die Inflation der Lebensmittelpreise in den Griff bekommen sollten“.

Allianz-Expertin Boata sagt voraus: „Insgesamt werden die Auswirkungen auf den Handel zwischen der EU und Großbritannien negativ sein, und wir müssen zu Beginn mit langen Lkw-Schlangen an der Grenze und längeren Lieferzeiten rechnen.“

Offenbar erwarten das auch viele Bürger, denn in Großbritannien gibt es erste Hamsterkäufe. So haben nach Angaben des britischen Handelsverbands für Gartenbau (HTA) viele Mitgliedsbetriebe auf der Insel ihre Bestellungen aus der EU in den vergangenen Wochen vorsorglich erhöht.

Sie befürchten, dass es durch die verstärkten Kontrollen und den zusätzlichen Verwaltungsaufwand zu Lieferengpässen kommen könnte oder Blumen und Pflanzen durch längere Lieferzeiten leiden könnten.

Labour-Regierung könnte sich der EU wieder annähern

Die heimlichen Hoffnungen vieler Wirtschaftsvertreter richten sich deshalb auf einen Regierungswechsel in London. „Eine neue Labour-Regierung könnte Verhandlungen mit der EU aufnehmen, um ein günstigeres Handelsabkommen mit weniger physischen Kontrollen an der Grenze zu erreichen“, sagt Boata.

Bislang hat die Führung der in den Meinungsumfragen mit 20 Prozentpunkten vorn liegenden sozialdemokratischen Oppositionspartei sowohl eine Rückkehr Großbritanniens in den EU-Binnenmarkt als auch einen Wiedereintritt in die Zollunion ausgeschlossen.

Stattdessen hat Labour-Chef Keir Starmer ein Veterinärabkommen mit der EU angekündigt, das viele der jetzt geplanten Kontrollen wieder überflüssig machen würde – das würde bedeuten, dass sich Großbritannien den EU-Regeln für Lebensmittelsicherheit anpasst, um den Handel zu erleichtern.

Für die noch regierenden Tories wäre eine dynamische Anpassung an EU-Regeln jedoch ein „Verrat“ an ihrem Versprechen von 2019, „den Brexit zu Ende zu bringen“.

2024-04-18T05:26:50Z dg43tfdfdgfd