ITALIENS SPEKTAKULäRSTER KORRUPTIONSSKANDAL SEIT LANGEM: DIE REGIERUNG VON GIORGIA MELONI IST NERVöS

Es gebe in Genua zwei Bürgermeister, sagt man. Einer sitze im Palazzo Tursi, dem Rathaus, und der andere im Palazzo San Giorgio, dem Sitz der Hafenbehörde. Welcher von beiden mehr zählt, liegt für die Genuesen auf der Hand: Es ist derjenige unten im Hafen. Denn dort geht es um viel Geld und um viele Interessen.

Bis im Sommer 2023 sass Paolo Emilio Signorini an dieser zentralen Schaltstelle. Signorini, ausgebildet an den Universitäten von Florenz und Yale, kann auf eine bemerkenswerte Laufbahn in der italienischen Nationalbank, im Wirtschafts- und im Infrastrukturministerium sowie in der vierten Regierung von Silvio Berlusconi zurückblicken. Seit dem letzten Jahr ist er CEO von Iren, einer riesigen Firma, die Dienstleistungen für die öffentliche Hand erbringt, zum Beispiel in den Bereichen Strom, Wasser, Gas und Fernwärme.

Als Präsident der Hafenbehörde hatte er sich zuvor einigen Luxus gegönnt: zum Beispiel 42 Nächte im Hôtel de Paris in Monte-Carlo, dazu Wettabende im Kasino, Eintrittskarten für den Final des Tennisturniers im Fürstentum, Wellnessbehandlungen, teure Taschen und Uhren, Bargeld – alles bezahlt vom Genueser Unternehmer Aldo Spinelli. Dieser wiederum besitzt eine bekannte Logistikfirma und war früher Präsident der Fussballklubs von Genua und Livorno.

Das geht aus Medienberichten und den Unterlagen hervor, die die Staatsanwaltschaft von Genua und die Antimafiabehörde am Dienstag publiziert haben. Als Gegenleistung soll Signorini dem Unternehmer Spinelli die Beschleunigung der Verfahren für die Verlängerung der Konzession an dessen Firma für den Betrieb eines Güterterminals im Hafen von Genua zugesagt haben. Für Spinelli wurde inzwischen Hausarrest angeordnet, Signorini wurde vorsorglich in Untersuchungshaft gesetzt, um zu verhindern, dass er die Ermittlungen behindert oder flieht.

Geld fürs Wahlkomitee

Doch der Korruptionsfall reicht weiter, bis in die hohe Politik. Am Dienstag wurde nämlich auch der Präsident der Region Ligurien, Giovanni Toti, unter Hausarrest gestellt. Ausserdem führten Beamte der Finanzpolizei in Totis Haus im Zentrum von Genua eine Hausdurchsuchung durch. Der Gouverneur wird der Korruption beschuldigt. Er soll als Gegenleistung für bestimmte Gefälligkeiten Geld von Spinelli erhalten haben. Insbesondere sollen Gelder an ein Komitee von Toti geflossen sein, das gegründet wurde, um dessen Wahlkampf zu unterstützen. Die Rede ist von Zahlungen im Gesamtwert von über 74 000 Euro.

Gesamthaft ermitteln die Behörden in Genua gegen neun Personen, darunter auch gegen den Kabinettschef von Toti. Dieser wird des Wahlbetrugs beschuldigt, ausserdem soll er die Aktivitäten eines sizilianischen Mafia-Clans erleichtert haben.

Es steckt viel Zunder in dem Fall – was auch damit zu tun hat, dass der Regionalpräsident aus dem Dunstkreis von Silvio Berlusconi stammt, ursprünglich in dessen Medienimperium Karriere gemacht hat und mittlerweile einer moderaten bürgerlichen Kleinpartei angehört, die Teil der Regierungskoalition von Giorgia Meloni ist.

Politische Spielchen?

In Rom ist man denn auch etwas nervös – und erst einmal ratlos, wie man auf die Sache reagieren soll. Während einige Minister der Regierung den Staatsanwälten implizit vorwerfen, politische Spielchen zu treiben, hält sich Meloni zurück. Die Medien vermuten, die Regierungschefin mache vorerst gute Miene zum bösen Spiel und hätte eigentlich von Toti erwartet, dass er in Anbetracht der Vorwürfe sofort von seinem Amt zurücktrete. Vier Wochen vor der Europawahl kommt ihr die Angelegenheit mit Sicherheit höchst ungelegen.

Meldungen über vermutete oder tatsächliche Korruptionsfälle haben sich in Italien jüngst gehäuft. Allein im letzten Monat wurden ähnliche Untersuchungen in Bari, Turin, Catania und Palermo publik. Derjenige von Genua mag wohl der spektakulärste Fall sein, aber die verschiedenen voneinander unabhängigen Ermittlungen zeigen, dass das Land auch dreissig Jahre nach den sogenannten Tangentopoli-Skandalen noch immer nicht «genügend Antikörper» gegen Korruption entwickelt hat, wie es der «Corriere della Sera» formuliert.

Im Fall von Genua blinkten die Warnlampen freilich schon früh. Der Hafen der Stadt sei seit je von einer vielschichtigen Kriminalität geprägt, meint die in Grossbritannien lehrende und auf organisierte Kriminalität spezialisierte italienische Juristin Anna Sergi, die vor vier Jahren eine Studie über Genua publiziert hat. Die Korruptionskartelle seien Teil der Beziehungen zwischen Hafen und Stadt, schreibt sie – und bestätigt damit das, was die Genueser meinen, wenn sie von ihren beiden Bürgermeistern reden. Derjenige im Palazzo San Giorgio, unten im Hafen, ist der wichtigere. Oder war es. Bis die Polizei kam.

2024-05-09T03:58:32Z dg43tfdfdgfd