MäRCHENSTUNDE KLIMASCHUTZGESETZ: DIE NOVELLIERUNG IST EIN SKANDAL

Die Gebrüder Grimm lebten und wirkten hauptsächlich im 19. Jahrhundert. Dass sie wohlbekannt und erfolgreich waren und sind, ist keine Neuheit. Was mir persönlich allerdings neu war: wie tiefgreifend ihr Einfluss auf Regierungspolitik und Berichterstattung im 21. Jahrhundert in Deutschland noch ist. Aber von vorn.

Was bisher geschah: Die Ampel hat sich auf die Abschwächung des Klimaschutzgesetzes, konkret die Abschaffung der Sektorziele geeinigt. Und gleichzeitig auf das zweite Solarpaket. Das ist ganz nüchtern betrachtet, was diesen Montag passiert ist.

Was auch zur nüchternen Realität gehört: die Resonanz, die es zur Reform des Klimaschutzgesetzes aus Expert:innenkreisen und aus der Wissenschaft gibt. Auch diesen Montag, kurz vor der Einigung der Fraktionen, hatte der Expertenrat für Klimafragen der Bundesregierung seine aktuellen Befunde zur deutschen Klimapolitik vorgestellt. Fazit: Hohe Einsparungen im Vergleich zum letzten Jahr, leider wohl größtenteils zurückzuführen auf die Wirtschaftskrise, nicht auf tatsächlich erfolgreichen Klimaschutz. Zwei Sektoren haben ihre Ziele gerissen.

Verkehrsminister Volker Wissing verweigert seine Pflichten

Der Verkehrsbereich liegt, es wird langsam langweilig, mit großem Abstand auf dem letzten Platz. Zehn Prozent mehr Emissionen als zulässig wurden ausgestoßen. Bauen und Wohnen, der zweite Bereich, der seine Vorgaben gerissen hat, überschritt sein Ziel um 1,2 Prozent.

Die erneute Forderung des Expertenrates am Montag war deswegen: ein Sofortprogramm von Verkehrsminister Wissing für den Verkehrsbereich. Nach dem bisherigen und noch geltenden Gesetz ist Wissing bei Überschreiten des Sektorziels verpflichtet, ein solches Sofortprogramm vorzulegen, was er seit Juli letzten Jahres verweigert – es ist nur noch gaga.

Das erste Märchen: Fortschritt für den Klimaschutz

Im neuen Gesetz soll genau dieser Mechanismus, die jährliche Überprüfung der Emissionen einzelner Sektoren, abgeschafft werden. Entsprechend wird es auch keine Sofortprogramme mehr geben. Was zählt, ist die Gesamtbilanz aller Sektoren zusammen. Wenn die Ziele insgesamt verfehlt werden, können sich freiwillig Minister:innen melden, um aufzuräumen.

Es ist wenig überraschend: Die Reform stößt auf scharfe Kritik aus der Wissenschaft. Die Ampel will derweil die Reform allen Ernstes als Erfolg für den Klimaschutz verkaufen, die FDP erzählt wirklich von der "Flexibilisierung von Emissionen" und will damit etwas Gutes meinen. Jedem Geografie-Grundkurs-Schüler dürfte klar sein: Wenn "Flexibilisierung" an einem Ort wirklich überhaupt nichts verloren hat, dann in Emissionsbudgets.

Die Medien leisten Schützenhilfe: Klimaschutzgesetz ist kein Erfolg

Zurück zu Montag und dem neuen Klimaschutzgesetz. Wenn man in deutsche Medien schaut, könnte man denken, etwas völlig anderes sei passiert. Ich öffne die Tagesschau-Website, und nette Männer, die Solarpanele montieren, lächeln mir freundlich entgegen. Die Überschrift: "Durchbruch bei Klimaschutzgesetz und Solarpaket".

Im Deutschlandfunk ist die Bebilderung gleich eine ganze Landschaft voller erneuerbarer Energien. Spiegel, Zeit, FAZ, ZDF: überall Windräder und riesige Flächen mit Solaranlagen. "Flexibilisierung der Emissionen" lese ich hier, "endlich Einigung" dort. Habe ich etwas verpasst, frage ich mich? Hat die Ampel sich doch auf eine für den Klimaschutz bessere Version des Gesetzes geeinigt?

Das zweite Märchen: Das Fahrverbot, das keines war

Weiter geht es mit dem zweiten Thema im Artikel: "Fahrverbote vom Tisch", steht in der Tagesschau. Sie wurden "erfolgreich verhindert", steht sinngemäß in ZDF, Zeit, Spiegel, Welt, FAZ und Co. übereinstimmend. Ich lese nochmal und nochmal. Ich kann es nicht fassen.

Wissing hatte Ende letzter Woche die Falschinformation verbreitet, um die Sektorziele im Verkehrsbereich einzuhalten, müsse er Fahrverbote an Wochenenden einführen. Eine Drohung, die auf allen Ebenen unzutreffend und absurd ist. Und eine totale politische Bankrotterklärung, gibt es doch viele gute Möglichkeiten für eine Senkung der Emissionen im Verkehrsbereich, von Schienenausbau über verkehrsberuhigte Innenstädte bis zum Tempolimit.

Die Medien schienen sich all dem zum Trotz um die lehrbuchhafte Nebelkerze zu reißen. Leitartikel erschienen ohne ein Dementi am Anfang. Vielerorts gar keine Einordnung. Allenfalls wenige alibihafte Zeilen zur Kritik von Umweltverbänden am Schluss. Als wäre nicht vollkommen klar, dass ein Fahrverbot nie wirklich zur Debatte stand, sondern nur als Druckmittel und politische Stimmungsmache diente.

"Sich dann hinzustellen und zu verkünden, dass man etwas fürs Klima tue, ist in der Tat so fantastisch, die Gebrüder Grimm hätten ohne Zweifel ihre Freude daran."

Klimaschutz: Aussagen der Politik werden unkritisch übernommen

Fünf Jahre Klimabewegung liegen hinter uns. Fünf Jahre, in denen wir Klima überall hingetragen haben. In alle Medien und Debatten, in den Schulunterricht, in Politik und Wirtschaft. Und deutsche Leitmedien schaffen es immer noch nicht, wissenschaftliche Fakten richtig zu vermitteln?

Ich konnte es mir schlicht nicht vorstellen. So grob irreführende Formulierungen und Bilder zu benutzen. Einem Minister die krudesten Behauptungen nachzuplappern, ohne die Informationen einzuordnen. Als wüssten wir nicht, wie wichtig diese Dinge sind.

Leider behielt ich unrecht. Ich wurde enttäuscht. Ampel- und Wissing-Narrative wurden weitgehend unkritisch übernommen. Der Aufschrei über die Entkernung dieses historisch vor Gericht erstrittenen Gesetzes fiel viel zu klein aus.

Und die Moral von der Geschicht:

Die Novellierung des Gesetzes ist der eine Skandal. Sie ist Verrat an denen, die das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht erkämpft haben, Verrat an den Millionen, die auf der Straße waren und das ermöglichten, und Verrat an der ganzen Generation dahinter.

Sich dann hinzustellen und zu verkünden, dass man etwas fürs Klima tue, ist in der Tat so fantastisch, die Gebrüder Grimm hätten ohne Zweifel ihre Freude daran. Wenn man dann die Geschichten ein paar Male weitererzählt – wie hier von vielen Leitmedien getan –, kommt eine waschechte Märchenstunde raus.

Epilog

Wir wären nicht Fridays for Future, würden wir nicht weitermachen.Deswegen schreiben wir auch nach fünf Jahren noch mehr oder weniger freundliche Reminder wie diesen. Weil sie noch nötig sind, aber auch, weil es sich lohnt zu kämpfen, weil eben so viel zu gewinnen ist. Der Aufschrei kam zwar nicht jetzt. Dafür kommt er an unserem Klimastreik. Umso lauter. Am 31. Mai in ganz Deutschland. Wir sehen uns auf der Straße.

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