NAHOST-KONFLIKT: WARUM DER ÖLPREIS AUF 100 US-DOLLAR PRO BARREL STEIGEN KöNNTE

Die Ölmärkte reagieren überraschend entspannt auf Israels Vergeltungsschlag gegen den Iran. Doch die Preisrisiken sind nicht gebannt – und könnten Folgen für die Weltwirtschaft haben.

Der Nahostkonflikt bewegt den Ölmarkt: In der Nacht zum Freitag stiegen die Ölpreise um mehr als vier Prozent, nachdem US-Medien über einen möglichen Vergeltungsschlag Israels gegen Iran berichtet hatten.

Im Laufe des Vormittags gaben die Ölpreise die Gewinne allerdings nahezu vollständig wieder ab. Die Benchmark-Sorte Brent notiert bei knapp 87 US-Dollar pro Barrel und ein Fass der US-Sorte WTI kostet rund 82 US-Dollar.

Der geopolitische Risikoaufschlag, der den Preis für Brent seit Anfang April über 90 US-Dollar pro Barrel gehoben hat, ist gesunken. Dafür dominieren schwache Fundamentaldaten die Stimmung am Ölmarkt, etwa unerwartet deutlich gestiegene US-Lagerbestände.

Dennoch könnte es mit dem Preis schnell wieder aufwärtsgehen. In den vergangenen Tagen haben mehrere Analysten ihre Ölpreisprognosen angehoben. Die Ölversorgung ist zwar derzeit noch nicht beeinträchtigt, dennoch steigen die Versorgungsrisiken – durch den Konflikt im Nahen Osten. Denn die Region ist für rund ein Drittel des globalen Ölangebots verantwortlich.

„Wir erachten den jüngsten Preisrückgang als nicht gerechtfertigt“, schreibt Commerzbank-Analyst Carsten Fritsch in einem Kommentar. Das Auspreisen der Risikoprämie erscheine verfrüht. Die Commerzbank habe ihre Preisprognose für Brent am Ende des laufenden Quartals um fünf Dollar auf 90 US-Dollar pro Barrel angehoben. Für das zweite Halbjahr erwarten die Analysten nun sogar ein Preisniveau von 90 bis 95 US-Dollar pro Barrel.

Noch weiter gehen die Analysten von JP Morgan Chase und der Citigroup, die vor Preisanstiegen bis zu 100 US-Dollar pro Barrel warnen. Die Société Générale schreibt sogar in einem Kommentar, dass der Ölpreis auf 140 US-Dollar steigen könnte – allerdings gilt das in einem Szenario, in dem es direkte militärische Auseinandersetzungen zwischen den USA und dem Iran geben könnte.

Iran ist einer der größten Ölproduzenten der Opec. Laut Daten des Öl-Kartells produzierte das Land im März rund 3,2 Millionen Barrel pro Tag. Das sind rund drei Prozent des weltweiten Ölangebots, das laut der Internationalen Energieagentur (IEA) bei 102,9 Millionen Barrel pro Tag liegen soll.

Gleichzeitig sieht sich der Staat als Erzfeind Israels und gilt als wichtigster Financier der Terrororganisation Hamas. Würden Irans Fördermengen wegfallen, etwa durch Angriffe auf Infrastruktur im Zuge eines offenen Konflikts, könnten die Ölpreise steigen.

Noch schwerer wiegt das Konfliktszenario, falls Iran die Straße von Hormus blockiert. Durch die Meerenge, die den Persischen Golf und den Golf von Oman verbindet, wird täglich rund ein Fünftel der weltweiten Ölproduktion transportiert.

Analysten halten eine Blockade aber für sehr unwahrscheinlich, da Iran die Straße selbst für wichtige Exporte benötigt, durch die er auch seinen Krieg finanziert. Sollte dieses Extremszenario aber eintreffen, könnte der Ölpreis laut Prognosen der Weltbank bis auf 140 bis 157 US-Dollar steigen. Das wären bis zu 80 Prozent über dem aktuellen Wert – ein solcher Preis hätte dramatische Folgen für die Weltwirtschaft, da sich steigende Ölnotierungen auch auf die Lebensmittelpreise auswirken.

Steigende Öl- und somit auch Benzinpreise könnten auch US-Präsident Joe Biden zu schaffen machen: Der Wahlkampf läuft, für höhere Belastungen der Bürger wird schnell die Regierung verantwortlich gemacht. Zudem haben höhere Energiepreise Zweitrundeneffekte auf die Inflationsmesszahlen, von denen die US-Notenbank Federal Reserve mögliche Zinssenkungen abhängig macht.

Drahtseilakt für Biden

Für Biden ist eine mögliche Verschärfung von Ölsanktionen gegen Iran damit ein Drahtseilakt. Die iranischen Ölexporte, die den Kriegskassen des Regimes in Teheran wichtige Devisen verschaffen, befinden sich auf einem Fünfjahreshoch – trotz bestehender Ölsanktionen, die 2018 die damalige US-Regierung erlassen hatte.

Das Öl wird vor allem nach China exportiert. Der US-Senat hat daher laut der Nachrichtenagentur Bloomberg diese Woche für einen Gesetzentwurf gestimmt, der auf die Umgehung von Ölsanktionen durch China abzielt. Ein ähnlicher Gesetzentwurf wurde demnach auch im Repräsentantenhaus verabschiedet.

Zudem stimmte der Senat für einen Gesetzentwurf, der Sanktionen gegen Raffinerien von iranischem Öl vorsieht sowie gegen Unternehmen, die mithilfe von Schiff-zu-Schiff-Transfers iranische Öltransporte verschleiern. Die Ölpreise könnten durch diese Verschärfungen um bis zu 8,40 US-Dollar pro Barrel steigen, so der texanische Energieanbieter ClearView Energy Partners.

Sanktionen gegen Venezuela

Auch die Ölproduktion Venezuelas könnte zurückgehen. Die US-Regierung hat die Öl-Sanktionen gegen die sozialistische Diktatur nach einer sechsmonatigen Pause wieder in Kraft gesetzt. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hatte die getroffene Vereinbarung nicht erfüllt, faire Wahlen zu ermöglichen. Bloomberg zufolge wird die Sanktionierung wenig sofortige Auswirkungen auf den Ölmarkt haben, allerdings wird die Ölproduktion mittel- bis langfristig sinken, da sich nun ausländische Investoren zurückziehen werden.

Zudem bestehen weiterhin gegen Russland Ölsanktionen, da das Land mit den Ölverkäufen seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine finanziert. Aber auch Russland kann trotz der Sanktionen weiterhin hohe Einnahmen erzielen, findet Käufer in China und Indien.

Zuletzt attackierte die Ukraine russische Ölraffinerien. Die Drohnenangriffe zeigen Wirkung: Laut der Analysefirma Kpler lagen die russischen Diesellieferung in den zehn Tagen bis zum 13. April etwa 25 Prozent unter dem Durchschnitt für diesen Zeitraum zwischen 2019 und 2023.

Schwäche am Dieselmarkt

Trotzdem sind die Terminkontraktmärkte für Diesel Bloomberg zufolge ins „Contango“ gerutscht. So wird eine bestimmte Preissituation bezeichnet, die einer Erklärung bedarf: Mit einem Diesel-Future verpflichtet sich der Verkäufer vertraglich dazu, eine bestimmte Menge Diesel zu einem vorab vereinbarten Termin und Preis an den Käufer zu liefern. Und der Käufer verpflichtet sich, die Ware abzunehmen. Gibt es genug Angebot auf dem Markt, notieren länger laufende Futures über den kürzer laufenden – das hat unter anderem mit den Lagerkosten des Diesels zu tun.

„Es gibt eine echte Schwäche im physischen Markt, wie sie im wachsenden Contango bei Diesel-Future-Kontrakten zum Ausdruck kommt“, so Tamas Varga, Analyst bei der Brokerfirma PVM. Laut Bloomberg sei die US-Nachfrage in diesem Jahr so schlecht angelaufen wie seit 2016 nicht mehr.

Knappheit am Ölmarkt

Die Terminkontaktmärkte für Brent-Öl befinden sich allerdings in „Backwardation“, das heißt, kürzer laufende Futures notieren über den länger laufenden. Das signalisiert eine Knappheit am Markt, trotz preisdrückender Signale wie den US-Öllagerbeständen. Diese sind in der vergangenen Woche um 2,7 Millionen Barrel gestiegen, Experten hatten mit 1,4 Millionen Barrel gerechnet.

Dennoch: Laut der IEA war der Ölmarkt im ersten Quartal mit knapp 300.000 Barrel pro Tag unterversorgt, und auch für dieses Quartal deutet sich ein ähnlich hohes Angebotsdefizit an. Die Analysten der UBS rechnen für dieses Quartal sogar mit einem Defizit von 900.000 Barrel pro Tag und im dritten Quartal mit einem Defizit von 500.000 Barrel pro Tag. „In unmittelbarer Zukunft erwarten wir, dass die derzeitige Marktknappheit und die erhöhten geopolitischen Risiken, insbesondere im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen dem Iran und Israel, die Preise nahe den aktuellen Niveaus stützen werden, und das Risiko tendiert eher nach oben“, so die Experten.

Spielraum der Opec plus begrenzt

Würden allerdings Saudi-Arabien und sieben weitere Mitglieder der Opec plus ihre freiwilligen Förderkürzungen zurücknehmen, könnte der Ölmarkt laut IEA im zweiten Halbjahr um 700.000 Barrel pro Tag und damit erheblich überversorgt sein. „Der Spielraum für eine Anhebung der Produktion ist somit begrenzt“, folgert Commerzbank-Analyst Fritsch. Für die zweite Jahreshälfte sei bestenfalls von einer schrittweisen Rücknahme der freiwilligen Produktionskürzungen auszugehen.

Anfang März haben Saudi-Arabien und sieben weitere Mitglieder der Opec plus angekündigt, ihre Ende November beschlossenen freiwilligen Förderkürzungen um ein weiteres Quartal zu verlängern. Diese einseitigen Kürzungen belaufen sich derzeit auf rund 2,2 Millionen Barrel pro Tag.

Zu diesen freiwilligen Kürzungen der Opec-plus-Staaten Saudi-Arabien, Algerien, Kasachstan, Kuwait, Oman, Irak, Vereinigte Arabische Emirate (VAE) und Russland kommen weitere hinzu. Zum einen haben bereits im April 2023 neun Mitglieder des Ölkartells freiwillige Kürzungen von 1,66 Millionen Barrel pro Tag bis Ende 2024 versprochen. Darüber hinaus greift eine 2022 beschlossene kollektive Förderkürzung von zwei Millionen Barrel pro Tag, ebenfalls bis Ende des Jahres.

Saudi-Arabien braucht höhere Preise

Die UBS geht davon aus, dass die Opec-plus-Produktion im dritten Quartal um 700.000 Barrel pro Tag steigen könnte. Das könnte wiederum dazu beitragen, die Preise zu senken. Im Schnitt rechnen die UBS-Analysten für 2024 mit einem Brent-Preis von 83 US-Dollar pro Barrel.

Ein Preis, der zu niedrig ist für den größten Produzenten des Öl-Kartells, Saudi-Arabien. Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wird Riad einen durchschnittlichen Ölpreis von 96,20 US-Dollar pro Barrel benötigen, um seinen kostspieligen Staatshaushalt auszugleichen.

Ziad Daoud, Bloomberg-Chefvolkswirt für Schwellenländer, hat dafür sogar einen Preis von 108 US-Dollar pro Barrel berechnet. Allerdings: Wenn der Wüstenstaat seine Förderkürzungen lockert, könnte auch der benötigte Ölpreis sinken.

2024-04-19T16:47:12Z dg43tfdfdgfd