NUR EIN FLASCHENHALS BLEIBT - DEUTSCHLANDS ENERGIEWENDE KLAPPT SCHNELLER, ALS WIR DENKEN

Beeindruckende Zahlen: Bei 65 Prozent lag der Anteil der Erneuerbaren Energien am deutschen Strommix im April. Und der Anteil dürfte noch steigen, vermuten Experten - ein ambitioniertes Ziel liegt damit überraschend in Reichweite. Doch ein großer Flaschenhals steht noch im Weg.

Kommt im Jahr 2024 tatsächlich die „Wende“ in die „Energiewende“? Die aktuellen Zahlen zum deutschen Strommix zeigen Erstaunliches. Nach Daten der Statistik-Plattform „Energy-Charts“ lag der Anteil der Erneuerbaren Energien am Strommix im April bei stolzen 65 Prozent, im Jahresmittel beträgt der Anteil derzeit 58,6 Prozent. Zur Einordnung: 2023 war das erste Jahr, in dem die Erneuerbaren die 50-Prozent-Grenze überschritten haben.

„Schneller als erwartet“

In rasend schnellem Tempo verschwindet derweil eine alte Säule des deutschen Energiesystems: die Kohle. Weniger als 20 Prozent unserer Energieerzeugung kommt noch aus der Kohle - das gab es zuletzt in den 1960ern. Die Folge: Deutschlands Stromerzeugung produziert 25 Prozent weniger CO2 als noch im April 2023.

„Für nächstes Jahr, also 2025, erwarte ich einen Anteil von knapp 65 Prozent“, sagt Energiemarkt-Analyst Marco Wünsch vom Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos über den deutschen Strommix. „Der Anteil der erneuerbaren Energien steigt in der Tat schneller als erwartet.“ Prognos selbst sei in einer Studie aus dem Jahr 2021 lediglich von einem Erneuerbaren-Anteil von 57 Prozent im Jahr 2025 ausgegangen, erzählt Wünsch.

Die Solar-Sensation

Dass das Wachstum bei den erneuerbaren Energien unterschätzt wird, ist nichts Neues. Die Große Koalition aus Union und SPD hatte 2014 ein Ausbauziel von 55 bis 60 Prozent für das Jahr 2035 ausgegeben - diese Marke hat Deutschland bereits jetzt erreicht. Und Expertinnen und Experten klingen optimistischer als je zuvor. Der deutsche Strommarkt habe die Energiekrise nach der russischen Invasion der Ukraine gut überstanden, urteilt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin in einem aktuellen Bericht, auch der Atomausstieg habe die Versorgungssicherheit zu keiner Zeit gefährdet. „Das Ziel, dass wir bis 2030 mindestens 80 Prozent erneuerbare Energien haben, ist durchaus realistisch“, sagt DIW-Ökonomin Claudia Kemfert.

Wie kam es zu dem grünen Wunder? Gerade im Bereich der Solarenergie gebe es derzeit eine hohe Geschwindigkeit, sagt Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE). „Die Geschwindigkeit bei der Solarenergie ist auf die zahlreichen gesetzlichen Erleichterungen, den Abbau von Hürden, den Bürokratieabbau und gegenüber der Vorgängerregierung erhöhte Einspeisetarife zurückzuführen“, erklärt Burger. „Außerdem sind die Preise für Solarmodule extrem gefallen, was die Rentabilität der Solarenergie erhöht.“

Tatsächlich erlebte Deutschland im vergangenen Jahr eine wahre Solar-Sensation , das Ausbauziel für 2023 wurde bereits im September erreicht. Alleine in Bayern sind Photovoltaikanlagen mit einer Leistung von 15 Kernkraftwerken installiert. In seiner Studie aus dem Jahr 2021 habe Prognos eine installierte Solar-Leistung von 91 Gigawatt für das Jahr 2025 erwartet, sagt Wünsch - tatsächlich dürften es aber 115 Gigawatt werden. „Und auch bei Wind könnten es 2025 rund 70 Gigawatt statt 65 Gigawatt werden. In Summe wären das 30 Terawattstunden mehr erneuerbarer Strom, als wir vor drei Jahren erwartet hatten.“

Grün und günstig

Wünsch macht auch noch auf einen weiteren Faktor aufmerksam: Der deutsche Stromverbrauch ist niedriger als angenommen. Im Vergleich zu 2021, dem letzten Jahr vor der russischen Invasion der Ukraine, war der Stromverbrauch zehn Prozent höher als heute. Die flaue Wirtschaftslage führte zu einem Produktionsrückgang in der Industrie, die Adaption von Elektroautos geht langsamer voran als in vielen Szenarien prophezeit. Und: Die Energiekrise hat dazu geführt, dass Wirtschaft wie Privatverbraucher sparsamer mit Strom umgehen.

Auf die Strompreise wirkt sich das Erneuerbaren-Wachstum grundsätzlich positiv aus. Solar und Wind sind in ihrer Erzeugung die mittlerweile günstigsten Energieformen - je mehr grüne Energien im System sind, desto günstiger wird also auch die Erzeugung. Bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern kommen diese günstigeren Preise aber nur an, wenn auch der Strom selbst ankommt. Und hier steht Deutschland vor einem Flaschenhals-Problem.

Teure dumme Netze

Durch den rasch steigenden Erneuerbaren-Anteil „wird es immer öfter Situationen mit sehr niedrigen Börsenstrompreisen und auch Engpässen im Stromnetz und Abregelungen von EE-Strom geben“, erklärt Wünsch. Das bedeutet: Deutschlands Netze sind nicht immer in der Lage, den erzeugten günstigen Strom auch zu transportieren. Immer öfter müssen etwa Windräder in der Nordsee „abgeregelt“ werden, weil die Netze bereits voll sind. Der verbrauchsstarke Süden ist allerdings auf den Strom angewiesen. Stattdessen muss dann zum Beispiel ein Gaskraftwerk in Süddeutschland einspringen - dieser sogenannte „Redispatch“ erzeugte alleine im Jahr 2023 Kosten von knapp 3,1 Milliarden Euro.

Solange unser Stromsystem nicht flexibler wird, fressen die Kosten der „Redispatch“-Maßnahmen also die günstigeren Erzeugungskosten ein Stück weit auf. Lösungen für dieses Dilemma gibt es, sagt Wünsch: DIe Abkehr von den heutigen „starren Netzentgelten“ etwa, oder das ungenutzte Potenzial der vielen Batteriespeicher in den Haushalten der Deutschen. Mit digitaler oder „smarter“ Netzsteuerung könnten diese Speicher ihren Strom dann einspeichern, wenn es sinnvoll ist - und nicht einfach in den Morgenstunden, so wie jetzt.

Sünden der Vergangenheit

Allen Lösungen voran steht jedoch der Ausbau der Stromnetze. „Beim Netzausbau leiden wir unter den Versäumnissen der letzten drei Legislaturperioden“, kritisiert Burger. „Jetzt müssen wir im Eiltempo diese Versäumnisse nachholen.“ Und vor allem die bayerische Landesregierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) hatte zunächst den Netzausbau blockiert - und dann eine teurere Lösung durchgesetzt mit längerer Bauzeit. Ohne diesen Widerstand, sagt Burger, wären wichtige Leitungen wie „Suedlink“ schon längst fertig.

Aber nicht nur die großen, sondern auch die kleinen und mittleren Leitungen müssen weiter ausgebaut werden, fordert Burger. Denn die Art und Weise, wie wir Energie transportieren und verwenden, wird sich in den nächsten Jahrzehnten empfindlich verändern. „Bis 2045 wollen wir alle Sektoren dekarbonisiert haben“, sagt Burger. Das bedeutet: Kein Erdgasnetz mehr, keine Tanklaster, kein Diesel, kein Heizöl. „Alles geht dann über das Stromnetz.“ Die ultimative Prüfung steht der Energiewende noch bevor.

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