ROBERT HABECK IN KASSEL: DIESMAL VERWAHRT ER SICH GEGEN EINE SCHLAGZEILE

Wirtschaftsminister beantwortet Fragen beim HNA-Lesertreff

Robert Habeck in Kassel: Diesmal verwahrt er sich gegen eine Schlagzeile

Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) stellte sich am Montagabend beim HNA-Lesertreff im Südflügel des Kulturbahnhofs den Fragen unserer Leser.

Kassel – Aus 90 geplanten Minuten wurden locker 105, die Bandbreite der Themen war groß; es ging um Rente, Atomkraftwerke, Digitalisierung, Fachkräftemangel und ein Gute-Speisenkarten-Gesetz, das es unter diesem Namen womöglich gar nicht gibt. Insgesamt kamen 220 Besucher zu dem von HNA-Chefredakteur Axel Grysczyk moderierten Abend – darunter auch Vertreter der Wirtschaft wie die gerade erst gewählte Präsidentin der Industrie- und Handelskammer, Désirée Derin-Holzapfel. Der Schnellcheck.

Wie war die Stimmung im Saal? Sehr konzentriert, mitunter andächtig, wenn Robert Habeck erzählte. Er kam so ein bisschen wie der Erklärer der deutschen Politik rüber und versuchte, seine Entscheidungen zu erläutern, auch wenn er deshalb manchmal etwas ausholte. Die Besucher hörten zumindest gespannt zu, weil Habeck die Gabe hat, unterhaltsam reden zu können, Gesten inklusive. Nicht selten malte er mit den Händen Anführungsstriche in die Luft oder lehnte sich lässig an den Stehtisch.

Und wie war die Stimmung draußen vor der Tür? Am Hintereingang, an dem Habeck vorfuhr, demonstrierten rund 40 Menschen – gegen Habeck, gegen die Ampel, aber auch ein bisschen gegen alles, wie Habeck feststellte. Er habe Rufe wahrgenommen, er sei von der USA gesteuert. Seine Antwort gleich zu Beginn der Veranstaltung: „Das kann ich ausschließen.“

Welche Themen standen bei den HNA-Lesern hoch im Kurs? Gleich die zweite Frage, gestellt von Petra Schmidt, handelte von einer Heizung: Was sie tun solle, wenn ihr 30 Jahre alter Niedrigtemperaturkessel kaputt gehe, wollte sie wissen, ob sie dann noch mit Öl heizen könne. Habeck erläuterte, dass erst einmal die Kommunen am Zug sind, eine Wärmeplanung vorzulegen, ehe die Nutzung fossiler Energieträger untersagt werden wird. Die Leserin solle sich aber sehr genau die Kostenprognosen anschauen.

Nicht nur das Thema Energie brannte auf den Nägeln, immer wieder ging es um die flaue Wirtschaftsentwicklung und um zu viel Bürokratie. Frank Dittmar etwa, Präsident der Handwerkskammer Kassel, beschrieb die Krise im Wohnungsbau. Der Appell des Bauunternehmers aus Guxhagen: „Geben Sie wieder mehr Mittel in die KfW-Förderung. Und wir brauchen ein Sondervermögen Wohnungsbau.“

Habeck wollte die Lage ersichtlich nicht schönreden, skizzierte den Zusammenhang von teurer Energie, Steigerung der Produktionskosten, Inflation und hohen Zinsen. Um die Konjunktur anzukurbeln, Anreize für Investitionen und Innovationen zu schaffen, fehlten der Bundesregierung aber die Spielräume – daran ließ Habeck keinen Zweifel. Doch er sieht den Silberstreif am Horizont: „Es geht Schritt für Schritt nach oben.“

Und was hat Habeck zum Stichwort Bürokratie gesagt? „Die Beispiele, die einem nur so zufliegen, sind teilweise nur mit Humor zu ertragen“, so der 54-Jährige. Mit der kreativen Wortschöpfung „Gute-Speisekarten-Gesetz“ sorgte er für einen Lacher. Gemeint war, dass ein thailändischer Koch keine Aufenthaltsgenehmigung bekommt, wenn er in einem Restaurant mit deutscher Küche arbeiten will. Vieles könne schneller und schlanker gehen, so Habeck, es müssten „Schneisen“ in die Gesetzgebung geschlagen und viel „Unsinn“ aus den Paragrafen gestrichen werden.

Robert Habeck ist ja immer für eine Schlagzeile gut. Hat er an diesem Abend für eine neue gesorgt? Nein, er hat sich sogar gegen eine Schlagzeile verwahrt. Als HNA-Chefredakteur Axel Grysczyk nachhakte, ob er seine Äußerungen so zuspitzen könne: „Habeck fordert massiv Abschaffung der Schuldenbremse“, da erwiderte der Vizekanzler: „Durch das Fordern krieg’ ich’s ja nicht.“ Er wolle „das kreative Denken anregen“, und bei der Union gerate auch schon etwas in Bewegung. Die Schuldenbremse müsse angepasst werden an krisenhafte Zeiten: „Wir brauchen mehr Flexibilität, um das ganze System stabil zu halten.“ Darüber werde im Hinblick auf die Bundestagswahl sicher noch geredet.

War der Abend ganz ohne solche Zuspitzungen nicht ein bisschen langweilig? Im Gegenteil. Es war interessant zu sehen, wie Habeck Politik erklärt – die Möglichkeiten, aber auch die Zwänge, denen ein Minister ausgesetzt ist. Er sprach ausführlich – in den Habeck-typischen rhetorischen Schleifen, aber irgendwann geschickt seinen Punkt machend – über ein Gemeinschaftsgefühl, das die Demokratie brauche. Gegen das „Spalten, Hassen, Ausgrenzen“ gelte es, die Zuversicht, die Fähigkeit und den Stolz zu setzen, dass man „in einer starken Gemeinschaft die Dinge lösen kann“. An anderer Stelle sprach er von der „Lust aufs Gelingen“. Damit sei verbunden, bei allen legitimen Kontroversen diskussions- und sprachfähig zu sein, auf Verständigung zu setzen. Mit am meisten Beifall bekam er, als er sagte, Jugendliche sollten sich nicht nur bei Tiktok oder Facebook informieren.

Wie hat sich Habeck insgesamt präsentiert? „Detailreich und geduldig“, so sagte es HNA-Geschäftsführer Frank Schmid am Ende. Das trifft es, zumal Habeck trotz seines langen Tags aufmerksam und konzentriert auftrat.

Gab es auch etwas zu lachen? Durchaus – siehe Gute-Speisekarten-Gesetz. Als Habeck dies erwähnte, musste sogar einer seiner Bodyguards, die den ganzen Abend sehr starr an der Seite standen, lachen. Oder besser: schmunzeln.

Hat Habeck auch etwas zu Kassel gesagt? Sagen wir mal so: Er hat die Region einbezogen in den Abend und häufig Melsungen erwähnt. Das lag daran, dass er kurz zuvor das Medizintechnikunternehmen B. Braun in eben Melsungen besuchte. Und: dass die Handballer der MT Melsungen im Pokal-Halbfinale kürzlich seine Flensburger besiegten. Das scheint ihn doch sehr getroffen zu haben. Es wird ihn kaum getröstet haben, dass auch Melsungen am Ende den Pokal nicht gewann, sondern Magdeburg.

Hier gibt‘s den Liveticker zum Nachlesen.

Was nimmt Habeck mit aus Kassel? Auf jeden Fall nicht den DHB-Pokal, wie Habeck selbst feststellte. Dafür bekam der 54-Jährige am Ende von HNA-Geschäftsführer Frank Schmid Köstlichkeiten aus Nordhessen. Keine Angst, die Ahle Wurscht war für den Vegetarier Habeck nicht dabei.

Schmid lud Habeck auch für ein weiteres Mal nach Kassel ein – zu einem Stadtspaziergang. Er verwies auf Beuys und dessen 1982 begonnenes Kunstwerk der 7000 Eichen. Titel: Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung. Schmid dazu: „Die Wiege erfolgreich umgesetzter grüner Realpolitik ist hier.“ Habeck schien das zu gefallen – so wie der gesamte Abend. Er sagte zum Schluss: „Im Grunde haben wir das gemacht, was ich versucht habe zu beschreiben: ein bisschen zuhören, verstehen, nachdenken, weiterdenken und miteinander im Gespräch bleiben.“

Lesen Sie auch: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck besucht B. Braun in Melsungen

2024-04-29T21:30:46Z dg43tfdfdgfd