SCHOLZ IN PEKING – „IN CHINA WIRD DEUTSCHLAND ALS SüNDENBOCK FüR DIE UKRAINE BETRACHTET“

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist in dieser Woche zum zweiten Mal nach China gereist. Im Vorfeld wurde er zum Teil heftig kritisiert: Deutschland dürfe nicht weiter auf enge Wirtschaftsbeziehungen mit China setzen. Stattdessen solle er die chinesische Regierung auffordern, Druck auf Russland auszuüben. Wie wurden diese Debatte und der Scholz-Besuch in China wahrgenommen? Die Berliner Zeitung sprach darüber mit dem chinesischen Politikprofessor Gao Jian von der Shanghai International Studies University. 

Herr Gao, Bundeskanzler Olaf Scholz war in dieser Woche zu einem dreitägigen Staatsbesuch nach China gereist. Wie wurde sein Besuch in China wahrgenommen?

Wir sind sehr froh, zu sehen, dass die deutsche Regierung die Tradition aufgenommen hat, die sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel geerbt hat. Merkel hatte China sehr häufig besucht und sie ist in China eine sehr angesehene Politikerin. Der Besuch von Olaf Scholz hat insbesondere vor dem Hintergrund der Krise in der Ukraine und den Diskussionen über eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschaftsstrategie für große Aufmerksamkeit in China gesorgt.

Die Ampelregierung schlägt im Vergleich zu ihren Vorgängern einen schärferen Ton gegenüber China an. So hat das politische Berlin vor einem Jahr erstmals eine Chinastrategie vorgelegt, in der Peking unter anderem als systemischer Rivale bezeichnet wird. Was halten Sie davon?

Wissen Sie, in China sagen wir: Fakten sprechen lauter als die Fantasie. Natürlich nehmen wir die Stimmen von deutscher Seite wahr, die fordern, die bilateralen Beziehungen neu zu definieren. Aber was wir erleben, ist, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt wird.

Die Chinastrategie, die vom deutschen Außenministerium herausgegeben wurde, nehme ich persönlich nicht sehr ernst. Das Außenministerium wird von einer Vertreterin der Grünen Partei geführt. Ich werde mich nicht persönlich über die Ministerin äußern. Aber ich habe den Eindruck, dass es auch in Deutschland großes Unverständnis über ihren Chinakurs gibt. Ich bin optimistisch, denn Deutschland und China haben keine geopolitischen Konflikte. Obwohl wir manche Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Einstellungen zu einigen internationalen Fragen haben, gibt es keine grundlegenden Probleme in unseren bilateralen Beziehungen.  

China ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Die deutsche Regierung hat jedoch Regeln verschärft, die es chinesischen Unternehmen erschweren, in Deutschland zu investieren, und auch deutsche Investitionen in China sollen stärker reguliert werden. Belasten diese Verschärfungen die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen?

Es gibt einen sehr populären Begriff heutzutage in Europa, das sogenannte De-Risking. Die EU ist kritisch gegenüber Chinas Direktinvestitionen in Europa. Es wurden einige Beschränkungen für Investoren aus der EU eingeführt, die sich in China engagieren wollen. Die Begründung ist, dass die EU über funktionierende Lieferketten verfügt und das Risiko einer Unterbrechung minimieren möchte. Wenn man sich jedoch die Statistiken anschaut, sieht man, dass in den letzten Jahren die deutschen Direktinvestitionen in China trotz der negativen Auswirkungen der Pandemie erheblich gestiegen sind. Ich glaube, das entspricht den objektiven Bedürfnissen auf beiden Seiten.

In Deutschland herrscht Unsicherheit darüber, wie sich die wirtschaftliche Situation in China entwickeln wird. China hat mit einer Immobilienkrise und hoher Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. Aber gleichzeitig erzielt das Land weiterhin hohe Wachstumsraten. Müssen wir uns also Sorgen machen oder nicht?

Ich bin zwar kein Wirtschaftswissenschaftler, aber ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben. Die britische Fachzeitschrift The Economist hat seit 1995 beständig Vorhersagen über den Absturz der chinesischen Wirtschaft getroffen. Einmal wurde vor der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums gewarnt, dann stand ein Schock bevor, oder die chinesische Wirtschaft soll vor einer großen Erschütterung gestanden haben. Wir haben einige Nachforschungen angestellt. Es ist wirklich sehr lustig. Die Formulierungen ändern sich ein wenig, aber der Tenor bleibt derselbe.

Auch wenn alle diese Prophezeiungen aus dem Westen nie eingetreten sind, heißt das nicht, dass China keine sozio-ökonomischen Probleme lösen muss. Tatsächlich besteht für die Weltwirtschaft als Ganzes nach einer langen Wachstumsphase eine gewisse Notwendigkeit der Neujustierung. Das hat auch damit zu tun, dass einige Staaten eine Strategie des Decoupling verfolgen. Diese Länder, allen voran die USA, haben unter dem Vorwand der Verteidigung ihrer nationalen Sicherheit absichtlich ihre Lieferketten unterbrochen, was verheerende Auswirkungen auf die globalen Lieferketten und die Weltwirtschaft hat.

Das sind globale Faktoren. Aber wie ist es um die Probleme der chinesischen Wirtschaft bestellt?

Die Immobilienbranche in China war in den letzten 20 Jahren sehr wichtig für das Wirtschaftswachstum. Aber vor zehn Jahren hat die chinesische Regierung einen Plan entworfen, wie wir unsere Wirtschaft anders entwickeln können. Wir sollten dem wirtschaftlichen Wandel Rechnung tragen. Chinas Ziel ist es, zur globalen Spitzenindustrie aufzuschließen und führend im Hightech-Bereich zu werden.

Aber machen Sie sich keine Gedanken, dass sich die vielen Wirtschaftsprobleme in China zu einer großen Krise auswachsen könnten?

Ich mache mir keine Sorgen, weil der chinesische Markt bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Wir haben eine wachsende Mittelschicht, haben gut ausgebildete Fachkräfte und verfügen über einen geschlossenen Produktionskreislauf. Die Grundlage dafür ist unser voll entwickeltes Bildungssystem. Die chinesische Regierung setzt auf eine Balance von Planung und Markt. Wenn wir über Wirtschaft sprechen, sollten wir immer daran denken, für wen wir unsere Wirtschaft entwickeln und wer von der Wirtschaft profitiert. Dabei haben wir nicht immer dieselben Vorstellungen wie der Westen. Wir wollen ein gerechtes Wirtschaftssystem aufbauen, das den Bedürfnissen der Bevölkerung dient.

China hat einen Friedensplan für den Krieg in der Ukraine vorgestellt. Deutschland hat noch keine Friedensinitiative für die Ukraine gestartet. Bislang setzt die Bundesregierung auf umfassende Waffenlieferungen. Inwieweit wird Deutschland in China als Partner für Friedensverhandlungen in der Ukraine gesehen?

In China sind viele der Ansicht, dass der Krieg in der Ukraine vermeidbar gewesen wäre. Wenn vor zwei Jahren der Westen Russland garantiert hätte, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werden würde, hätte Putin sicher anders reagiert. Leider wurde nicht so weitsichtig gehandelt. Und schließlich kam es zu diesem grausamen Krieg.

Soweit ich weiß, hat auch die deutsche Gesellschaft für diesen Krieg eine Menge geopfert. In China wird Deutschland als eine Art Sündenbock für die Ukraine betrachtet. Deutschland hat niedrige Energiepreise geopfert. Die Produktionsbedingungen haben sich verschlechtert, Kapital fließt in andere Länder. Insgesamt ist die Situation für die deutsche Wirtschaft derzeit sehr schlecht.

Ich denke, es gebe eine andere Möglichkeit, die Situation zu bewältigen: Alle Beteiligten an der Ukrainekrise müssen einbezogen werden, um eine friedliche Lösung zu finden. Deutschland muss etwas unternehmen, anstatt sich manipulieren zu lassen. Die Regierung muss etwas Greifbares anbieten, das der Bevölkerung zugute kommt.

Der Westen wirft China vor, Russland zu unterstützen, und fordert, China solle Druck auf Putin ausüben, damit er den Krieg in der Ukraine beendet. Ist das der richtige Ansatz?

Der indische Außenminister hat kürzlich erklärt, der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg in Europa. Es ist ein europäischer Krieg, kein Weltkrieg. Chinas Haltung zur russischen Ukrainekrise ist seit der ersten Reaktion bis heute konsequent: Kein Land hat das Recht, die Souveränität eines anderen Landes zu verletzen. Gleichzeitig gilt auch, dass jede internationale Organisation nicht ohne Rücksicht auf die Interessen lokaler Großmächte expandieren sollte. Wenn wir Probleme lösen, sollten wir die Interessen aller Beteiligten zusammenbringen und eine Friedensplanung anstreben. Wenn eine Seite immer an den eigenen Prinzipien festhält ohne Rücksicht auf die Interessen der anderen, wird es keinen Frieden, sondern Krieg geben.

Könnte China nicht dennoch seine starken Wirtschaftsbeziehungen zu Russland nutzen, um die russische Rüstungsindustrie zu schwächen?

China pflegt normale Beziehungen zu Russland. China hat das Recht, seine eigenen nationalen Interessen zu entwickeln und zu verteidigen. Bisher hat China sein Versprechen strikt eingehalten und in Kriegszeiten nie gegen die internationalen Regeln verstoßen. Ich denke also, dass die Kritik an China unberechtigt und unangemessen ist. Aber wir wären sehr froh und bereit, in Zukunft eine aktivere Rolle in den Friedensgesprächen zu übernehmen und die Verhandlungen über eine neue gesamteuropäische Sicherheitsstrategie zu unterstützen.

Sie haben darauf hingewiesen, dass der Krieg in der Ukraine vor allem eine Angelegenheit der Europäer sei. Im Südchinesischen Meer droht eine neue Krise. Die USA und ihre Verbündeten rüsten in der Region immens auf, China hingegen besteht auf der Sicherung seiner unmittelbaren Einflusssphäre. Wie groß ist die Gefahr eines Krieges in der Region?

Wir leben jetzt in einer Zeit des Chaos. Die Welt verändert sich rasant. Die frühere und die gegenwärtige internationale Ordnung braucht einige Anpassungen. Die Frage ist: Wie kann man alle Teilnehmer in diese neue Weltordnung einbeziehen? Dabei sollten die Interessen aller Staaten berücksichtigt werden. China will seinen Beitrag dazu leisten. Es gibt grob gesagt zwei Möglichkeiten: Die eine ist Krieg, Konfrontation, Kampf gegeneinander, das Festhalten am eigenen Standpunkt und das Weiterleben in einer Mentalität des Kalten Krieges und der früheren Kolonialzeit.

Die andere Möglichkeit ist, dass wir uns der Realität stellen, eine verantwortungsvolle Haltung einnehmen und mit Hilfe von Verhandlungen und Friedensgesprächen eine Lösung finden. Wenn dieses Prinzip von allen Beteiligten weitgehend akzeptiert wird, sollten auch die Probleme im Südchinesischen Meer leicht zu lösen sein.

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