ÜBERNAHMEKAMPF IM BERGBAUSEKTOR: DER MöGLICHE VERKAUF VON ANGLO AMERICAN BEFEUERT ANGST VOR EXODUS AUS LONDONER BöRSE

Die Nachricht, dass der australische Bergbauriese BHP Interesse am britisch-südafrikanischen Konkurrenten Anglo American bekundet, hat in London Nervosität ausgelöst. Zwar liess der an der Londoner Börse gelistete Konzern Anglo American am Freitag verlauten, er habe ein erstes Angebot von BHP im Umfang von 39 Milliarden Dollar zurückgewiesen, weil dieses den Wert der Firma signifikant unterbewerte. BHP hat gemäss britischem Recht nun aber bis am 22. Mai Zeit, um ein formelles Angebot zu unterbreiten. Denkbar ist laut Beobachtern auch, dass sich ein Übernahmekampf entfacht, bei dem auch andere Konkurrenten wie Rio Tinto mitmischen könnten.

Kehren Firmen London den Rücken?

Der mögliche Deal käme nicht nur der grössten Übernahme im Minensektor seit Jahren gleich. Vielmehr befeuert die ungewisse Zukunft von Anglo American auch die Sorgen der Briten, wonach der Londoner Börse ein Exodus wichtiger Firmen bevorstehen könnte. Denn Anglo American rangiert im vorderen Teil des Indexes der 100 grössten in London kotierten Unternehmen (FTSE 100).

Der Verlust wäre ein Schlag für Londons Stellung als Hub für Rohstofffirmen, die mit einer gesamthaften Marktkapitalisierung von rund 545 Milliarden Franken einen substanziellen Teil des FTSE 100 ausmachen. Doch nachdem 2021 bereits BHP die britische Hauptstadt in Richtung Australien verlassen hatte, gab es jüngst Spekulationen, der Ölriese Shell könnte den Handel seiner Aktien nach New York verlegen. Der Konkurrent BP wurde nach internen Turbulenzen teilweise gar als möglicher Übernahmekandidat genannt.

Die Probleme des Börsenplatzes London betreffen freilich nicht nur den Rohstoffsektor. Gemäss vom «Evening Standard» zitierten Zahlen der Investment Bank Peel Hunt könnten im laufenden Jahr Firmen mit einem Wert von insgesamt 100 Milliarden Pfund (114 Milliarden Franken) London verlassen. So hat beispielsweise der Reiseanbieter Tui angekündigt, sein Listing nach Deutschland zu verlegen. Der Wettanbieter Flutter schlägt derweil seinen Aktionären die Verlegung des Handels seiner Wertpapiere von London nach New York vor.

Klagen über tiefe Bewertungen

Hintergrund des drohenden Exodus sind die Klagen etlicher Firmen, dass ihre Titel in London unterbewertet seien. Im letzten Jahr kam eine Untersuchung der Investmentfirma SCM Direct zu dem Schluss, dass die hundert grössten britischen Firmen um insgesamt rund 525 Milliarden Franken höher bewertet wären, wenn ihre Aktien statt in London in New York gehandelt würden. Die tiefe Bewertung, so die Klagen, machten aus Firmen wie Anglo American Übernahmekandidaten.

Zur Begründung führte SCM Direct einerseits den Brexit an, der ab 2016 zu einem schlechteren Investitionsklima in Grossbritannien geführt habe. Andererseits nannte der Bericht den Fokus auf ESG-Investments, die das Augenmerk auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung legen. Insgesamt seien Firmen in London um rund 18 Prozent tiefer bewertet, als sie dies in den USA wären, so die Kalkulationen von SCM Direct. Im Vergleich zu europäischen Handelsplätzen eruierte der Bericht für London aber keine wesentlichen Unterbewertungen.

Die Regierung versucht, die Liquidität im Markt zu erhöhen, was die Nachfrage nach Aktien und damit auch die Bewertungen am Londoner Handelsplatz erhöhen soll. So sollen etwa die Regeln gelockert werden, damit die Pensionskassen offensiver investieren können. Dennoch betrachten Beobachter die mögliche Übernahme von Anglo American mit Sorge, wie eine Analystin des britischen Finanzdienstleisters Hargreaves Lansdown gegenüber dem «Guardian» erklärte: «Wenn der Deal zustande kommt, wäre das wohl nur die Spitze des Eisbergs, und andere Giganten könnten die Londoner Börse verlassen.»

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