BERLIN: URTEIL GEGEN OBERARZT DER CHARITé - TOTSCHLAG IN BESTER ABSICHT

Der Fall führt in den Grenzbereich ärztlichen Handelns: Ein Oberarzt der Charité gab zwei schwerstkranken Menschen hohe Dosen Propofol. Das Landgericht Berlin sprach ihn nun schuldig: »Auch Sterbende können getötet werden.«

Als die Kammer ihr Urteil verkündet, geht ein Stöhnen durch den Saal. »Ist doch nicht Ihr Ernst!«, bricht es aus einer Frau im Publikum heraus. Unter den Zuhörenden sind zahlreiche Pflegekräfte der kardiologischen Intensivstation 47i der Berliner Charité. Dass ihr früherer Oberarzt Gunther S. tatsächlich wegen Totschlags in zwei Fällen schuldig gesprochen wird, damit haben sie nicht gerechnet oder jedenfalls das Gegenteil gehofft.

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Die 30. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin sieht es als erwiesen an, dass der Arzt im November 2021 einen schwerstkranken Patienten und im Juli 2022 eine schwerstkranke Patientin, beide 73 Jahre alt, durch eine Überdosis des Narkosemittels Propofol vorsätzlich getötet hat. »Wir gehen in beiden Fällen davon aus, dass es sich um eine gezielte Verkürzung des Lebens und damit um gezielte Tötungen handelte«, sagt der Vorsitzende Richter Gregor Herb.

Im Gesicht von Gunther S. ist keine Reaktion abzulesen. Auch die vier Jahre Gesamtfreiheitsstrafe, zu der ihn das Gericht verurteilt, nimmt der 56-Jährige ohne sichtbare Regung hin.

Wie weit dürfen Ärzte ins Sterben eingreifen? Wann müssen sie die Kontrolle abgeben? An diesem Tag endet ein Prozess, in dem es um ärztliches Handeln im Grenzbereich ging.

Eine Krankenschwester schlug Alarm

Der Arzt selbst hatte vor Gericht gesagt, der Patient Ulrich B. und die Patientin Marianne G. hätten sich bereits im aktiven Sterbeprozess befunden, als er ihnen das Propofol verabreicht habe. Er habe ihr Leben mit der Gabe des Narkosemittels nicht verkürzt, sondern ihnen mögliche Qualen beim Sterben ersparen wollen. Ihre schwere Erkrankung, nicht das Propofol, habe zum Tod geführt. Das Gericht sieht das anders.

Die Richterin und die Richter folgen in ihrem Urteil der Aussage der Hauptbelastungszeugin. Der jungen Krankenschwester Sophie J. hatte der Tod von Ulrich B. und Marianne G. keine Ruhe gelassen. Kurz nach dem Tod der Frau wandte sie sich an die Compliance-Stelle der Charité. Sie wollte, dass jemand außerhalb der Station die Fälle prüft. In der Folge wurde Gunther S. vom Dienst suspendiert, und die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln.

Das Gericht glaubt der Zeugin. Demnach hat der Arzt

  • am 22. November 2021 die Krankenschwester Katja W. angewiesen, dem Patienten Ulrich B. 500 Milligramm Propofol zu spritzen. Katja W. soll nach einigem Zögern und auf wiederholte Aufforderung des Arztes die tödliche Dosis schließlich verabreicht haben.

  • Am 23. Juli 2022 soll Gunther S. der Patientin Marianne G. dann eigenhändig erst 200, dann 400 Milligramm des Narkosemittels injiziert haben.

»Unwiederbringlich todgeweiht«

Das Gericht geht davon aus, dass Ulrich B. und Marianne G. »unwiederbringlich todgeweiht waren, als Herr S. seine Behandlung begann«. Beide waren nicht bei Bewusstsein. Die Kammer nimmt dem Angeklagten auch ab, dass er davon ausging, dass bei beiden der Sterbeprozess bereits eingesetzt hatte. Die Kammer stellt jedoch fest: »Auch Sterbende können getötet werden.«

»Dreh- und Angelpunkt« sei die Dosis des verabreichten Narkosemittels, sagt Richter Herb. Die Mengen, die Sophie J. nannte, seien tödlich gewesen. Gunther S. selbst hatte von niedrigeren Dosen gesprochen. Doch auch diese Menge lag nach Ansicht aller Sachverständigen, die vor Gericht gehört wurden, jenseits von Gut und Böse. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Oberarzt durch die Überdosis Propofol nicht mögliches Leid lindern, sondern töten wollte. Die Kammer geht von zwei vollendeten Tötungsdelikten aus – aber nicht von zwei Morden.

Die Verteidigung hatte Freispruch beantragt, die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes gefordert. Doch das Gericht sieht weder niedrige Beweggründe noch das Mordmerkmal der Heimtücke vorliegen. Die Kammer geht von Totschlag in zwei minder schweren Fällen aus.

»Wir meinen«, sagt Richter Herb, »dass vieles dafür spricht, dass es die Zugewandtheit zum Patienten war, die Herrn S. zu seinem Handeln gebracht hat.« Vieles spreche dafür, dass Gunther S. ein Arzt sei, »dem die Patienten tatsächlich am Herzen liegen«. Eine »lebensfeindliche Haltung« gegenüber seinen Patienten sei bei ihm nicht erkennbar. Dem Patienten Ulrich B. etwa habe Gunther S. noch wenige Sekunden vor dessen Tod versucht, das Leben zu retten.

Der Arzt habe auch nicht heimtückisch gehandelt und die Arg- und Wehrlosigkeit der anwesenden Pflegekräfte ausgenutzt. »Herr S. hat gerade nicht heimlich agiert«, stellt das Gericht fest: »Er hat laut und deutlich Anweisungen gegeben und sogar wiederholt.«

Vertrauen ausgenutzt

Der Angeklagte habe jedoch nicht nur seine berufliche Stellung, sondern auch das Vertrauen seiner Patienten und deren Familien ausgenutzt, »die davon ausgingen, dass ihren Angehörigen in der Charité die bestmögliche Behandlung zuteilwird«. Die Witwe von Ulrich B., die die Urteilsbegründung bisher ohne sichtbare Reaktion im Saal verfolgt hat, scheint nun leicht zu nicken.

Ein Berufsverbot für den Arzt hat die Kammer nicht verhängt. Dass eine Verurteilung wegen Totschlags ohnehin Folgen für seine berufliche Zukunft haben wird, haben die Richterin und die Richter strafmildernd gewertet.

Seit bald einem Jahr sitzt Gunther S. bereits in Untersuchungshaft. An diesem Tag nun kommt er vorerst frei. Die Kammer hat den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. Zweimal die Woche muss sich der Arzt bei der Polizei melden. Erst wenn das Urteil eines Tages rechtskräftig werden sollte, muss Gunther S. den Rest der Strafe absitzen. Das Gericht hält es allerdings auch für möglich, dass die Reststrafe vielleicht sogar zur Bewährung ausgesetzt werden könnte.

Bereits im Februar hatte die Kammer das Verfahren gegen die einst mitangeklagte Krankenschwester Katja W. mit Zustimmung aller Prozessbeteiligten gegen eine Geldauflage eingestellt. Die 39-Jährige musste 1500 Euro an die Witwe B. zahlen. Nichts deutete für die Kammer darauf hin, dass die 38-Jährige den Tod des Patienten gewollt oder auch nur billigend in Kauf genommen hat. Anders als Oberarzt Gunther S.

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