»CASS REPORT« ZU PUBERTäTSBLOCKERN: MUSS SICH DIE THERAPIE VON TRANS JUGENDLICHEN äNDERN?

Der britische »Cass Report« kritisiert die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die das Gefühl haben, im falschen Geschlecht geboren zu sein. Der Jugendpsychiater Georg Romer sagt, was das für Deutschland bedeutet.

SPIEGEL: Der lange erwartete Bericht der britischen Kinderärztin Hilary Cass liegt jetzt vor – er stellt der bisherigen Behandlung von Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz in England ein katastrophales Zeugnis aus. Unter anderem wird die häufige Therapie der Betroffenen mit sogenannten Pubertätsblockern kritisiert. Sie sei nicht ausreichend wissenschaftlich belegt, viele wichtige Fragen seien noch offen. In der Anfang des Jahres von Ihnen vorgestellten Behandlungsleitlinie nimmt diese Therapiemöglichkeit aber einen wichtigen Platz ein. Müssen Sie jetzt Ihre Leitlinie ändern?

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Romer: Keineswegs. Alle wichtigen Empfehlungen des »Cass Reports« waren uns aus Vorveröffentlichungen bereits bekannt und wurden entsprechend eingehend in der Leitlinie berücksichtigt. Die graduellen Unterschiede der Empfehlungen des Reports zu unseren Empfehlungen werden teilweise aufgebauscht. Es gibt sehr viele Übereinstimmungen in unserer Leitlinie mit den Cass-Empfehlungen, insbesondere, was die Notwendigkeit einer angemessenen psychotherapeutischen Versorgung von Jugendlichen angeht, die an einer Geschlechtsdysphorie leiden. Auch darin, wie komplex und herausfordernd verantwortungsvolle medizinische Entscheidungen in diesem Feld sind, besteht Einigkeit.

SPIEGEL: Es lässt sich trotzdem nicht bestreiten, dass mehr Forschung zu Pubertätsblockern und auch allgemein zur Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz wünschenswert wäre. Dass Eltern sich angesichts vieler offenen Fragen zum Beispiel zu möglichen Langzeitwirkungen der Pubertätsblocker Sorgen machen, ist verständlich. Warum gibt es so wenig Langzeitstudien dazu?

Romer: Langzeitstudien sind aufwendig. Sie müssen nachhaltig finanziert werden. Sie werden in diesem Feld jetzt zunehmend durchgeführt und werden die Evidenzlage verbessern. Es ist aber in der Medizin immer so gewesen, dass sich die sogenannte »Best Practice« vorläufig auf der Basis klinischer Erfahrungen weiterentwickelt und Studien dies durch Evidenz nach und nach bestätigen oder modifizieren. Wir behandeln Jugendliche seit mehr als 25 Jahren und haben entsprechend viele ins Erwachsenenalter begleitet. Wir sehen überwiegend, dass diese jungen Menschen ins Leben durchstarten, Ausbildungen absolvieren, in stabilen Partnerschaften leben und keine Psychotherapie mehr brauchen. Die theoretisch denkbaren Langzeitschäden, etwa für die spätere sexuelle Zufriedenheit nach einer Pubertätsblockade im Jugendalter tauchen bisher nicht nennenswert erkennbar auf.

SPIEGEL: Führen Sie selbst auch wissenschaftliche Studien durch? Einzelbeobachtungen können auch einen falschen Eindruck erwecken.

Romer: Ja, wir führen hier aktuell mehrere Studien durch, deren Ergebnisse noch in diesem Jahr vorliegen werden.

SPIEGEL: Große Sorgen macht vielen, dass nicht nur immer mehr Kinder und Jugendliche sich unwohl im eigenen Geschlecht fühlen, sondern dass auch der Anteil derjenigen Jugendlichen in etlichen Ländern weit überproportional zunimmt, die große psychische Probleme mitbringen.

Romer: Man muss hier sorgfältig unterscheiden zwischen Jugendlichen, die queere Lebensstile vorübergehend ausprobieren, was zunehmend offen gelebt wird – wobei offen eben auch verlaufsoffen heißt –, und den realen Behandlungszahlen. Also die Zahl der jungen Menschen, die zu uns kommen aufgrund einer dauerhaft anhaltenden Geschlechtsdysphorie, die weder durch das sozial akzeptierte Ausleben einer bestimmten Rolle weggeht noch »wegtherapiert« werden kann. Diese medizinischen Behandlungszahlen sind in den vergangenen zehn Jahren zwar deutlich angestiegen, jedoch in moderatem Maße und bei den Jugendlichen relativ gesehen nicht mehr als bei 18- bis 30-Jährigen. Es handelt sich dabei also nicht um eine spezielles Phänomen des Jugendalters.

SPIEGEL: Werden psychische Probleme und Erkrankungen in der Behandlung denn ausreichend berücksichtigt?

Romer: Gerade weil die psychischen Probleme oft sehr komplex sind, ist eine sorgfältige psychotherapeutische Begleitung so wichtig, um nichts zu übersehen und alle Probleme fachgerecht zu adressieren. Da psychische Begleiterkrankungen häufig durch eine Geschlechtsdysphorie mitverursacht sind, wäre es aber unethisch zu verlangen, dass zum Beispiel soziale Ängste oder Depressionen immer erst geheilt sein müssen, bevor man beispielsweise eine hormonelle Behandlung anbietet.

SPIEGEL: Die wissenschaftliche Basis für eine Therapie mit Pubertätsblockern ist das sogenannte »Dutch Protocol«, das niederländische Behandlungsprotokoll. An der dazugehörigen Studie nahmen jedoch nur 70 Jugendliche teil, die alle psychisch stabil waren und während der Behandlung zudem auch noch intensiv psycho-sozial betreut wurden. Lassen sich die Ergebnisse dieser Studie überhaupt auf die heutigen Patientinnen und Patienten übertragen?

Romer: Das Problem mit der wissenschaftlichen Basis von Pubertätsblockern ist, dass sie niemals in der Behandlung für sich allein stehen, sondern Teil eines Gesamtpakets sind. Deshalb ist ihr alleiniger Effekt, der häufig nur in einer vorübergehenden Nicht-Verschlimmerung der Geschlechtsdysphorie besteht, nicht isoliert nachweisbar. Zur wissenschaftlichen Basis gehört, dass bei Erwachsenen mit Geschlechtsdysphorie körpermodifizierende Behandlungen zur Geschlechtsangleichung unbestritten die psychischen Gesundheitsprobleme reduzieren, wobei die dauerhafte Zufriedenheit mit dem eigenen Körper wesentlich ist. Die vorhandenen Daten weisen klar in die Richtung, dass dies bei Jugendlichen auch so ist. Pubertätsblocker kommen im Einzelfall ja nur als überbrückende Lösung ins Spiel, wenn man bei Jugendlichen gute Gründe hat, eine Hormonbehandlung, die den Körper irreversibel verändert, noch als verfrüht anzusehen, und gleichzeitig gute Gründe hat, das ebenso irreversible Voranschreiten der Verweiblichung oder Vermännlichung des Körpers zumindest vorübergehend zu stoppen.

SPIEGEL: Es gibt auch Menschen, die sich zunächst für eine Transition ins andere Geschlecht entscheiden, mit Hormontherapie und möglicherweise mit Operationen, und später für eine Detransition, eine Rückkehr ins alte Geschlecht oder für eine nicht-binäre oder fluide, weder eindeutig weibliche noch männliche Identität. Ältere Daten zeigen Detransitionsraten im niedrigen einstelligen Bereich. Der kanadische Detransitionsforscher Kinnon MacKinnon, selbst trans Mann, spricht jedoch von Schätzungen, die zwischen fünf und zehn Prozent liegen. Wird die Häufigkeit der Detransition unterschätzt, und muss dieses Gebiet besser erforscht werden?

Romer: Unbedingt. Es ist zu begrüßen, dass es mittlerweile erste Interview-Studien zu detransitionierten Menschen gibt, deren vorläufige Ergebnisse bereits jetzt in unsere Beratungs- und Aufklärungsgespräche einfließen.

SPIEGEL: Das Thema Pubertätsblocker ist leider ein ideologisches Minenfeld. Wer im Internet als Laie nach objektiven Informationen sucht, gerät schnell zwischen die Fronten. Hilary Cass wollte rein wissenschaftlich an dieses Thema herangehen. Ist ihr das gelungen?

Romer: Ich glaube, dass der Anspruch, rein wissenschaftliche Antworten geben zu wollen, nicht erfüllbar ist, weil wir ohne hinreichende Evidenz als Behandelnde im Einzelfall ethische Abwägungen treffen müssen: Wie gewichten wir bei einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung die möglichen weitreichenden Folgen eines medizinischen Eingriffs gegenüber den ebenso folgenschweren Auswirkungen eines Abwartens im Jugendalter, bei dem wir in Kauf nehmen würden, dass die Verweiblichung oder Vermännlichung des Körpers irreversibel voranschreitet? Der Deutsche Ethikrat fordert, dass stets sowohl die Folgen des medizinischen Handelns als auch des Nichthandelns zu bedenken sind. Zudem müssen wir den Schutz junger Menschen vor einer möglicherweise vorschnell getroffenen folgenschweren Entscheidung mit dem ethischen Prinzip der Selbstbestimmung abwägen, die nicht erst mit 18 Jahren beginnt. Jede einseitige Priorisierung bei diesen ethischen Abwägungen vereinfacht und polarisiert die Debatte.

SPIEGEL: Was erhoffen Sie sich für positive Wirkungen vom »Cass Report« und welche Wirkungen befürchten Sie?

Romer: Zu befürchten ist, dass der englische Report in polarisierender Weise als »Beleg« für eine grundsätzliche Ablehnung medizinischer Behandlungsangebote für jugendliche trans Personen, die an Geschlechtsdysphorie leiden, instrumentalisiert wird. Das steht dort so nicht drin. Zu hoffen ist jedoch, dass wir durch die differenzierte Darstellung der Problemlage, die weitgehend unstrittig ist, innerhalb der Fachwelt zu einer Versachlichung der Debatte kommen.

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