„ICH BIN FASSUNGSLOS“: MUTTER DER TOTEN MäDCHEN SCHILDERT IHRE SICHT DES FATALEN UNFALLS IN WARBURG

Hätte die Polizei mehr tun müssen?

„Ich bin fassungslos“: Mutter der toten Mädchen schildert ihre Sicht des fatalen Unfalls in Warburg

Nach dem schrecklichen Unfall bei Warburg schildert die Mutter der toten Mädchen ihre Sicht. Sie wünscht sich vor allem Antworten von der Polizei.

Beverungen – Zwei Wochen ist der schreckliche Unfall bei Warburg nun her, bei dem zwei Mädchen im Alter von vier und zehn Jahren getötet worden sind. Bilder von ihnen stehen gerahmt auf einem Tisch im Wohnzimmer der Mutter. Die Mädchen lächeln auf den Fotos – die Erinnerung an unbeschwerte Tage. Die Wohnung befindet sich im nordrhein-westfälischen Beverungen, kurz hinter der hessischen Landesgrenze. Hier haben die Mädchen zuletzt gelebt – bei ihrer Mutter.

Die 36-Jährige möchte ihren Namen und den Namen der Kinder nicht in der Zeitung lesen. Sie bittet auch darum, keine Fotos zu machen. Aber sie will erzählen, wie sich die Situation für sie darstellt, wie sie den Tag erlebte, an dem sie zwei ihrer drei Kinder verlor. Viel ist zuletzt geschrieben und erzählt worden, manches habe nicht gestimmt – darunter auch Informationen, die von der Polizei veröffentlicht wurden.

Vater sollte Kinder nach Schicht im VW-Werk holen

Also berichtet die Mutter über die Ereignisse an jenem 13. April, einem Samstag. Es war der Tag, an dem der Vater nach seiner Schicht im Baunataler VW-Werk die Kinder abholen sollte für ein gemeinsames Restwochenende mit ihnen: mit dem vierjährigen Mädchen, dem siebenjährigen Jungen und dem zehnjährigen Mädchen, dessen Vater er zwar nicht war, für das er aber auch eine Bezugsperson gewesen sei.

Über mehrere Jahre hätten alle zusammen in Baunatal gelebt, ehe vor rund zwei Jahren die Beziehung zerbrochen sei. Die Mutter, die aus Bad Karlshafen stammt und nun in der Altenhilfe arbeitet, zog mit den Kindern nach Beverungen, der Vater blieb in Baunatal, habe seine Kinder an Wochenenden und zum Teil in den Ferien aber zu sich holen dürfen.

Tödlicher Unfall bei Warburg: Kinder steigen in der Mutter unbekannten VW

Das wollte er auch an jenem Samstag. Allerdings habe er sich – so berichtet es die Mutter – verspätet. Er habe sie benachrichtigt und angegeben, er habe einen Unfall gehabt. Auf Nachfragen soll er nicht geantwortet haben. Mittlerweile ist bekannt, dass sich der Unfall in Baunatal in der Nähe vom Baunsberg ereignete.

Kurz vor 18 Uhr sei der 35-Jährige mit seinem zehn Jahre älteren Bruder auf dem Beifahrersitz schließlich in Beverungen vorgefahren. Es sei, so sagt es die Mutter, zu einem kurzen Gespräch gekommen, bevor die Kinder in seinen Wagen eingestiegen seien – einen VW Taigo, den die Mutter zuvor noch nie gesehen hatte. Nach dem Unfall habe sie herausgefunden, dass es sich um das Auto eines Arbeitskollegen ihres Ex-Freundes handelte. Ob das geleaste Fahrzeug mit den für die Kinder geeigneten Sitzen ausgestattet gewesen sei, habe sie nicht sehen können, sagt die Mutter.

Mutter nach tödlichem Unfall: „Ich hätte die Kinder sofort geholt.“

Viel von dem, was nun geschah, hat die Frau von ihrem sieben Jahre alten Sohn erfahren, manches von Polizei und Staatsanwaltschaft. Fest steht: Schon bald nach der Abfahrt in Beverungen ist es zu einem weiteren Unfall gekommen – in Dalhausen, einem kleinen Ortsteil von Beverungen auf dem Weg Richtung Warburg. Dort befindet sich derzeit eine Baustelle. Hinter der roten Ampel staute sich der Verkehr, der Vater soll mit dem Taigo auf einen stehenden Wagen aufgefahren sein. Die Polizei machte vor Ort einen Drogenvortest, der positiv ausfiel.

Der Vater wurde anschließend mit auf die Wache ins 20 Kilometer entfernte Höxter genommen. Die Kinder und der Bruder blieben in Dalhausen – im Auto. „Ich bin fassungslos darüber“, sagt die Mutter. Sie fragt sich, warum sie nicht informiert worden ist – zumal der Unfallverursacher noch nicht einmal der Vater ihrer zehnjährigen Tochter gewesen und der Bruder auch polizeilich bekannt gewesen sei. „Ich hätte die Kinder sofort geholt.“ Ein Handy hätten die Kinder nicht bei sich gehabt.

VW kracht kurz vor Hohenwepel gegen Baum

Nach dem positiven Drogenvortest habe der Vater dann seinen Führerschein abgegeben müssen. Allerdings: Den Autoschlüssel habe der Mann, der an dem Tag nun schon zwei Unfälle verursacht hatte, behalten dürfen. Er sei mit dem Taxi von der Polizeiwache in Höxter zurück zur Unfallstelle in Dalhausen gefahren. Mehr als zwei Stunden sollen die Kinder und der Bruder dort bei der Rückkehr schon im Auto verbracht haben, ohne dass sich etwas getan hätte. Der Bruder des Vaters soll die ganze Zeit geschlafen haben, habe ihr der Sohn berichtet.

Im Auto soll es dann – so hat es ebenfalls der Sohn der Mutter später erzählt – eine Diskussion gegeben haben, wer denn weiterfahren solle. Der Vater hatte seinen Führerschein soeben abgegeben, dessen Bruder angeblich noch nie einen Führerschein besessen. Schließlich sei der Vater dann unter dem Hinweis losgefahren, es gebe nur Stress, wenn er die Mutter der Kinder informiere.

Zu dieser Zeit war es annähernd 22 Uhr, dunkel. Die anschließende Fahrt dauerte dann nur noch ein paar Minuten. Kurz vor dem Warburger Ortsteil Hohenwepel krachte der Taigo auf gerader Strecke gegen einen Baum.

Kinder sollen nicht auf angemessenen Kindersitzen gesessen haben

Die Mutter vermutet, dass der Fahrer eingeschlafen ist. Sie berichtet davon, dass ihr Ex-Freund mitunter starke Schmerzmittel genommen habe – nach einem Unfall im vergangenen Jahr. „Er hat mir selber gesagt: Wenn er diese Schmerzmittel nimmt und dann ein bisschen Alkohol trinkt, wird er sofort müde.“ Sie nimmt an, dass aufgrund dieser Medikamente der Drogenvortest angeschlagen habe. Außerdem sei laut Polizei die visuelle Wahrnehmung bei dem Fahrer eingeschränkt gewesen.

Nach dem Unfall bei Hohenwepel wurde das lebensgefährlich verletzte ältere Mädchen ins Krankenhaus nach Kassel gebracht, das ebenfalls lebensgefährlich verletzte jüngere Mädchen nach Paderborn, der Junge und sein Vater kamen nach Höxter, der Bruder nach Warburg – alle mit dem Krankenwagen. Die Mutter hat inzwischen erfahren, so sagt sie es, wer wo im Unfallauto gesessen hat: der Sohn hinter dem Beifahrer, die ältere Tochter in der Mitte, die jüngere Tochter hinter dem Fahrer. Ihren Angaben zufolge hat die ältere Tochter auf keinem Kindersitz gesessen, die jüngere nur auf einem unzureichenden.

Polizei erklärt Vorgehen am Unfalltag und richtet Ermittlungskommission ein

Im Zuge der Ermittlungen zum Unfall ergeben sich auch für die Polizei in Höxter weitere offene Detailfragen. Daher habe die Behörde kürzlich eine Ermittlungskommission eingerichtet, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber unserer Zeitung.

Unter anderem beziehen sich die Untersuchungen demnach auf einen vorherigen Unfall am selben Tag, bei dem der spätere Unfallfahrer bereits als Verursacher aufgefallen war. Bei diesem Auffahrunfall in Beverungen-Dalhausen am Samstag, 13. April, gegen 18.30 Uhr, wurden zwei Fahrzeuge leicht beschädigt. Personen wurden nicht verletzt, heißt es in dem Statement. Die aufnehmenden Beamten der Polizei Höxter hätten jedoch Verhaltensauffälligkeiten bei dem 35-jährigen Fahrer bemerkt, sodass Zweifel an dessen Fahrtüchtigkeit aufgekommen seien. Ein Alkoholvortest vor Ort fiel laut Polizei negativ aus, ein Drogenvortest, der auch auf Medikamente reagiert, schlug positiv an. Eine mit der Staatsanwaltschaft abgestimmte Blutprobe sollte die Fahrtüchtigkeit klären. Es bestehe der Verdacht der Einnahme eines Medikamentes, das die Fahrtüchtigkeit unter anderem durch die Einschränkung der visuellen Wahrnehmung beeinträchtigen kann.

Die Staatsanwaltschaft Paderborn teilte am Freitag auf Anfrage mit: „Das Ergebnis der dem Beschuldigten am Unfalltag entnommenen Blutprobe liegt noch nicht vor. Aus diesem Grunde kann derzeit keine sichere Aussage darüber getroffen werden, ob der Beschuldigte unter Einfluss von Drogen, Alkohol, Medikamenten oder sonstigen Substanzen stand.“ Zur Blutprobe war der Fahrer laut der Stellungnahme der Polizei mit einem Streifenwagen zur Wache Höxter gebracht worden. In seinem Auto hätten sich zu dieser Zeit die drei Kinder auf der Rückbank sowie der 45-jährige Bruder des Fahrers befunden.

Der 35-Jährige als Erziehungsberechtigter habe die Anweisung bekommen, die Betreuung der Kinder sowie den Verbleib des Fahrzeugs zu organisieren, was er mit seinem Mobiltelefon im Beisein der Beamten offenbar auch getan habe. Die Kinder blieben laut Polizei vorübergehend in Obhut ihres Onkels.

Die Beamten hätten den Führerschein des 35-Jährigen sichergestellt und die Weiterfahrt untersagt. Der Fahrer habe dieser Maßnahme zugestimmt und den Eindruck vermittelt, alle Anordnungen verstanden zu haben und ihnen Folge zu leisten. Daher war eine Sicherstellung der Fahrzeugschlüssel an dieser Stelle laut Polizei nicht verhältnismäßig. Die Polizei Höxter habe er im Anschluss in einem Taxi verlassen. Dass derselbe Fahrer schon einige Stunden zuvor im Landkreis Kassel einen Sachschadensunfall verursacht hat, war zu diesem Zeitpunkt laut Polizei noch nicht bekannt gewesen.

Polizeidirektor Christian Brenski dazu: „Die weitere Entwicklung ist sehr tragisch und bedauerlich, war an dieser Stelle aber nicht vorhersehbar. Die Ereignisse bedrücken auch die eingesetzten Beamten. Wir haben großes Mitgefühl und Verständnis insbesondere für den Wunsch der Mutter, eine Erklärung für offene Fragen zu bekommen. Im Rahmen der neuen Ermittlungskommission hoffen wir, weitere Details zum Unfallgeschehen klären zu können.“

Junge geht nach dem Tod der Töchter wieder in die Schule

Informiert wurde die Mutter über die schrecklichen Ereignisse, so berichtet sie, erst um 3 Uhr – also fast fünf Stunden nach dem Unfall. Da seien Polizisten und Seelsorger vor der Tür gestanden. Die 36-Jährige versteht das nicht: „Warum so spät? Mein Sohn ist seit 0.30 Uhr im Krankenhaus gewesen und hat auf mich gewartet. Er hatte panische Angst und wollte, dass jemand kommt, dem er vertraut.“ Die Gedanken der Mutter gehen auch in die Richtung: Womöglich hätte sie ihre Töchter noch lebend angetroffen, wäre sie früher informiert worden. Das jüngere Mädchen sei im Krankenhaus gestorben, bei der älteren Tochter sei der Todeszeitpunkt noch nicht geklärt.

All das beschäftigt die 36-Jährige. Die Mutter sagt, sie funktioniere derzeit, sie sei für ihren Sohn da, der mittlerweile wieder zur Schule gehe, erste Klasse. Sie hat ihren neuen Lebensgefährten an ihrer Seite. Zudem hat sie sich einen rechtlichen Beistand genommen, der die Akten angefordert hat.

Mutter will nach tödlichem Unfall Antworten zum Verhalten der Polizei

Sie will Antworten auf ihre Fragen – auch zu dem Verhalten der Polizei. Ihr Lebensgefährte sagt: „Wir wollen Gerechtigkeit für die beiden Mädchen. Und wir wollen, dass nichts unter den Tisch gekehrt wird.“ Die Mutter sagt: „Sie sollen dazu stehen, wenn sie Fehler gemacht haben, auch wenn ich die Mädchen dadurch nicht wiederbekomme.“ Dass ihr Ex-Partner den Unfall absichtlich verursacht hat, glaubt sie nicht. „Er hat seine Kinder geliebt. Er war immer gut zu ihnen.“ Aber er habe fahrlässig in Kauf genommen, dass etwas passieren könne.

Am Mittwoch war die Gedenkveranstaltung für die Mädchen in Beverungen. An der Unfallstelle liegen Blumen, Kuscheltiere, Kränze mit Aufschriften. Die Mutter erzählt, dass sie erst kürzlich wieder dort war. Zum Schluss des Gesprächs blickt sie auf die Fotos der Mädchen in ihrem Wohnzimmer, die auch in der Kirche zu sehen waren. Sie erzählt stolz von den langen Haaren der Kinder. Die Mutter deutet an, dass sie sich deren Namen tätowieren lassen möchte – nah ans Herz. „Da gehören sie hin.“ (Kathrin Meyer und Florian Hagemann)

2024-04-27T04:19:57Z dg43tfdfdgfd