INKLUSION: WIE SACHSEN-ANHALT FRüHZEITIG KINDER TRENNEN WILL

Kinder mit Lernschwierigkeiten dürfen in Sachsen-Anhalt künftig direkt in die Förderschule eingeschult werden. Die Eltern sollen entscheiden, heißt es. Eine Kritikerin hält den Weg für ungerecht.

Der 8. Mai ist aus mindestens zwei Gründen ein besonderer Tag: Er markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur. Gleichzeitig steht er für einen Neuanfang. Vier Jahre später, am 8. Mai, beschloss der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Am Mittwoch ist das genau 75 Jahre her. Die Demokratie hat also Geburtstag, ein Grund zum Feiern! Aber manches wirkt im Rückblick auch beschämend; zum Beispiel, dass erst 1994 der Passus »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« ergänzt wurde.

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Das ist inzwischen 30 Jahre her. Trotzdem scheint der Satz noch immer zu oft mehr Wunsch als Wirklichkeit zu sein, etwa wenn es um Inklusion geht, das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Ich denke bei diesem Thema immer wieder an zwei Kinder, mit denen ich in die Grundschule gegangen bin. Namenstypisch für meine Generation nenne ich sie hier mal Nicole und Stefan.

Nicole hatte eine leichte körperliche Behinderung und war dadurch etwas eingeschränkt. Bei Bundesjugendspielen ging es darum, ob sie eine extra Urkunde bekommt, meine ich, an sehr viel mehr Besonderheiten erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, dass für die anderen Kinder und mich außer Frage stand, dass Nicole in unsere Klasse geht. Den Begriff »Inklusion« hatten wir nie gehört, das gemeinsame Lernen schien für uns selbstverständlich. Bullerbü? Leider nein.

Bei Stefan lief es anders. Noch vor der Einschulung war sein Zwillingsbruder bei einem Unfall gestorben. Stefan kam beim Lernen nicht gut mit. Schon zu Beginn der Grundschulzeit wurde er in eine kilometerweit entfernte Förderschule geschickt. Ob er später zu den wenigen gehörte, die es zurück auf eine Regelschule geschafft oder einen Schulabschluss erreicht haben, weiß ich nicht. Wir haben uns nicht wiedergesehen.

An Nicole und Stefan denke ich oft, wenn ich über Inklusion schreibe, weil sich kindliche Schicksale – stark abhängig vom Wohnort – bis heute, selbst so viele Jahre und Gesetzesänderungen später, noch zu oft so oder so ähnlich abspielen; nur dass die Kinder vielleicht Emma und Ben heißen. Diese Kinder benötigen oft Glück, engagierte Eltern und aufgeschlossene Lehrkräfte, damit sie in einer Regelschule lernen dürfen. In einigen Bundesländern gibt es beim Thema Inklusion aktuell sogar Rückschritte (Debatte der Woche).

Wie immer freuen wir uns über Lob, Kritik und Themenideen von Ihnen – gern an [email protected].

Für das Bildungsteam beim SPIEGEL

herzlich, Silke Fokken

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Das ist los

1. »Provokation«: Ärger über Verhandlungen zum Digitalpakt

Der Digitalpakt I, die milliardenschwere Förderung von Bund und Ländern zur Digitalisierung von Deutschlands Schulen, läuft Mitte des Jahres aus. Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über eine Neuauflage, einen Digitalpakt II, treten aktuell auf der Stelle. Die Länder sind unter anderem verärgert, weil sich der Bund laut einem Entwurf nur zu 50 Prozent an den Kosten beteiligen will und gleichzeitig weitreichende Forderungen erhebt.

Aus ähnlichen Gründen zeigen sich Lehrerverbände wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft empört: Der Entwurf sei kein Kompromissvorschlag, sondern eine Provokation. »Einerseits will das Bildungsministerium den Ländern vorschreiben, wie viele verpflichtende Fortbildungen sie anbieten müssen – und fordert damit den Bildungsföderalismus heraus. Andererseits reduziert der Bund seinen Finanzierungsanteil um 40 Prozent und will sich ab 2030 komplett aus seiner Verantwortung stehlen.«

2. »Sternchenfrage«: Streit über Sonderzeichen in Abi-Prüfungen

Gendern ist auch in Deutschlands Abiturprüfungen ein Politikum. Ob Binnen-I, Gendersternchen, Doppelpunkt oder Gendergap in schriftlichen Arbeiten als Fehler angestrichen werden und zu Punktabzug führen können, hängt vom Wohnort ab. Das zeigt eine SPIEGEL-Anfrage bei den 16 Kultusministerien. Ergebnis: In der Sternchenfrage herrscht föderaler Wildwuchs. Details lesen Sie hier.

Die Bildungsrechtlerin Sibylle Schwarz bezweifelt, dass Genderverbote im Abi rechtlich zulässig sind, und zwar weil etwa in Hessen Gender-Sonderzeichen in der Oberstufe nicht als Fehler angestrichen wurden, so erklärt es Schwarz bei Table.Bildung. In der eigentlichen Abiturprüfung solle dies nun anders gehandhabt werden. Das widerspreche dem Grundsatz, »dass in einer Prüfung nur abgefragt werden darf, was vorher gelernt und geübt wurde«.

3. »Historische Aufarbeitung«: Forderung nach verpflichtendem KZ-Besuch

Angesichts der Zunahme rechtsextrem motivierter Verbrechen fordert die Bundesschülerkonferenz, jede Schülerin und jeder Schüler müsse mindestens einmal verpflichtend ein Konzentrations- oder Vernichtungslager der NS-Zeit besuchen. Schülerinnen und Schüler müssten »von Anfang an umfassend über den Nationalsozialismus informiert werden und ein Bewusstsein für die NS-Zeit entwickeln«, teilt das Gremium mit. Neben der »historischen Aufarbeitung« müssten sie außerdem für die verschiedenen Erscheinungsformen des modernen Rechtsextremismus sensibilisiert werden: »Es ist entscheidend, bereits jetzt zu handeln, um späteres Umdenken überflüssig zu machen.«

Zahl der Woche

12

Zwölf befristete Arbeitsverträge hatte eine Vertretungslehrerin aus Nordrhein-Westfalen, dann wurde sie in die Zwangsferien geschickt, wie meine Kollegin Miriam Olbrisch recherchiert hat. Wie es zu so einer Entscheidung trotz akuter Personalnot an Schulen kommen kann, lesen Sie hier.

Und sonst noch?

  • Der ARD-Zweiteiler »Spurensuche Bildung« beleuchtet alternative Schulkonzepte in Dresden, Essen und Kanada. Titel: »Schule ohne Druck?« und »Abitur für alle?« Die Doku finden Sie in der Mediathek.

  • Im saarländischen Bietzen musste vor vielen Jahren die Dorfschule schließen, weil es zu wenige Kinder gab. Die »Süddeutsche Zeitung« beschreibt, wie ein Ortsvorsteher ein ganzes Dorf verändert, um die Schule zurückzuholen.

  • »Zeit Online« widmet sich den Mängeln der Lehrkräfteausbildung am Beispiel eines Quereinsteigers. Machtgebaren und Hierarchien kenne er von der Polizei, wird dieser zitiert. Als Referendar aber habe er Krasseres erlebt.

Debatte der Woche: Exklusion in Sachsen-Anhalt

Sachsen-Anhalt plant eine Neuerung für Kinder mit Lern-Beeinträchtigungen: Diese können auf Elternwunsch direkt in eine Förderschule statt in eine reguläre Grundschule eingeschult werden. Mit der Anpassung einer entsprechenden Verordnung werde nun geregelt, dass letztlich die Sorgeberechtigten entscheiden, in welcher Schulform ein Kind seine Bildungslaufbahn beginnt, heißt es aus dem Bildungsministerium. Starke Kritik kommt von Thekla Mayerhofer, Vorsitzende des Grundschulverbandes Sachsen-Anhalt.

SPIEGEL: Frau Mayerhofer, was stört Sie an der Neuregelung?

Thekla Mayerhofer: Diese frühzeitige Trennung ist vor allem sozial unglaublich ungerecht. Wenn Kindern eine Lern-Beeinträchtigung attestiert wird, liegt dies vor allem an ihrer Sozialisation.

SPIEGEL: Erklären Sie das, bitte.

Mayerhofer: Anderen Kindern wird oft vorgelesen, sie gehen mit Einkaufen, dürfen beim Backen helfen, kommen dabei mit Zahlen in Kontakt und so weiter. Sie bekommen vielleicht Vorschul-Apps oder Übungshefte, mit denen sie bestmöglich auf die Schule vorbereitet werden. Kindern mit Förderschwerpunkt Lernen fehlt all dies. Mit denen wird zu Hause oft nicht mal viel gesprochen. Es wird einfach wenig dafür getan, dass diese Kinder einen guten Start ins Leben haben.

SPIEGEL: Befürworter der Förderschulen argumentieren, dass diese Kinder deshalb von Anfang an besser separat gefördert werden sollten.

Mayerhofer: Man nimmt den Kindern damit von Anfang an die Chance, in einer Regelschule andere Kinder zu treffen und von einer sozialen Durchmischung zu profitieren. Vielmehr werden sie frühzeitig segregiert, aussortiert. Kinder an einer Förderschule mit Schwerpunkt Lernen bleiben, böse gesagt, in der Regel unter ihresgleichen. In diese Schulen gehen nach meiner Erfahrung fast ausschließlich Kinder, die aus sozial schwer benachteiligten Familien kommen.

SPIEGEL: Das heißt?

Mayerhofer: Da ist es nicht ein Kind, das sein Schulbrot vergisst, sondern vielleicht die Hälfte der Klasse, die ohne Frühstück kommt. Die andere Hälfte hat ein kleines Frühstückchen in Form einer halben Tüte Chips dabei. Die Kinder sind oft weitgehend auf sich gestellt, die Eltern kümmern sich wenig. In diesen Förderschulen zeichnet sich unser gesellschaftliches Versagen ab: Alles, was wir an sozialer Ungerechtigkeit und Kinderarmut haben, verdichtet sich an diesen Schulen – und wird an die Seite geschoben, aus dem Blickfeld.

SPIEGEL: Was fordern Sie?

Mayerhofer: Dass die Politik die nötigen Rahmenbedingungen an den Regelschulen schafft, damit Lehrkräfte qualitativ hochwertig unterrichten können. Damit meine ich, dass jeder Kollege und jede Kollegin die eigene Lerngruppe kennt und wirklich auf jedes Kind eingehen kann. Es darf nicht sein, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten in Förderschulen abgeschoben werden, wo sie kaum noch jemand wahrnimmt.

Vielen Dank für Ihr Interesse, die nächste Ausgabe der »Kleinen Pause« erscheint am 21. Mai. Alles Gute bis dahin! Wenn Ihnen ein Thema auf dem Herzen liegt, schreiben Sie gern an [email protected]

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