„KOMPLETTES STAATSVERSAGEN“ - ERMITTLUNGEN GEGEN AHR-LANDRAT: ANWALT FORDERT AUSWECHSLUNG DER STAATSANWäLTE

Wird jetzt der Landrat angeklagt? Das Versagen der Behörden bei der Ahrtal-Flut von 2021 beschäftigt die Staatsanwaltschaft. Am Donnerstag will sie bekanntgeben, ob der damals amtierende Landrat Jürgen Pföhler vor Gericht kommen soll. Eine Ankündigung, die Opfer-Anwalt Christian Hecken schockiert - und ihn zu einer spektakulären Forderung veranlasst.

Der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken hat am Mittwoch bei einer Pressekonferenz Koblenz gefordert, die ermittelnden Staatsanwälte im Fall der Ahrtalflut auszuwechseln und die für Donnerstag angekündigte Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft abzusagen. Am Donnerstag will die Staatsanwaltschaft Koblenz verkünden, ob sie fast drei Jahre nach der Flutnacht Anklage gegen den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU) und den Brandschutzinspekteur wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung erhebt.

Hecken vertritt fünf Nebenkläger, unter anderem gehören Werner-Michael Minwegen sowie Inka und Ralph Orth aus Bad Neuenahr-Ahrweiler zu seinen Mandanten. Minwegen verlor bei der Flut seine Eltern Helga und Werner, Inka und Ralph Orth ihre 22-jährige Tochter Johanna. „Wenn die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhebt, wäre das ein Justizskandal.“

 

„Komplettes Staatsversagen“

Bei der Flut am 14. und 15. Juli 2021 handle es sich um ein „komplettes Staatsversagen“, sagte Hecken. 135 Menschen seien gestorben, 766 Menschen seien verletzt worden, 42.000 Menschen seien betroffen, 17.000 hätten ihr Hab und Gut verloren. Viele litten noch heute. Er bekomme immer noch Anrufe von Menschen, die sagen: „Ich kann nicht mehr. Ich habe damals Menschen sterben sehen. Seitdem kann ich nicht mehr arbeiten, ich bin ein Wrack.“ Die Dunkelziffer darüber, wieviel Menschen tatsächlich betroffen sind, sei sehr hoch und nicht zu ermitteln.

Sie seien durch die Flut und das Staatsversagen betroffen. Dieses „Versagen“ dauere nach wie vor an. Er habe im Ermittlungsverfahren zahlreiche Eingaben gemacht, darunter auch einen Befangenheitsantrag gegen den Gutachter Dominic Gißler im Untersuchungsausschuss. Er wolle Aufklärung betreiben darüber, warum sich der Landrat Jürgen Pföhler der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht habe. Eine befriedigende Antwort der Staatsanwaltschaft habe er nie erhalten.

Aus der Presse habe er am Montag erfahren, dass die Staatsanwaltschaft morgen zur Pressekonferenz einlädt. Da sei er aus „allen Wolken gefallen“. Daher habe Hecken eine Eingabe an das Justizministerium gemacht, die er am 15. April abgeschickt habe. Kern: Hecken fordert, die ermittelnden Staatsanwälte nach dem „Sachermittlungsgesetz“ auszuwechseln und gegen „unabhängige Staatsanwälte“ zu ersetzen. Er fordert, das Ermittlungsverfahren so lange auszusetzen, bis dies erfolgt sei.

Ein fataler Eindruck

Es bestehe „hinreichender Verdacht“, dass Erkenntnisse vor den Betroffenen und Angehörigen „verborgen werden sollen“, sagte Hecken. Der Kreis habe eine Internetseite vom Netz genommen, die Einblicke zur Flutnacht gebe. Hecken habe den Eindruck, dass hier etwas „vertuscht“ werden soll.

Sein Mandant Ralph Orth sagte gegenüber FOCUS online Earth vor der Pressekonferenz: „Wenn die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhebt, ist dies ein Justizskandal ersten Ranges.“

Am Dienstag habe Hecken eine E-Mail von der Staatsanwaltschaft Koblenz bekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass ihm „die fehlenden Aktenbestandteile  gewährt werden.“ Bis dahin habe er nie eine Antwort auf seinen Befangenheitsantrag erhalten, sagt Hecken. Was er bislang nicht wusste: Die Staatsanwaltschaft habe den Gutachter, den Hecken für befangen hält, erneut beauftragt. Auch das sei ihm „vorenthalten“ worden. „Das ist in der Tat erschreckend.“

“Dinge, die in einem normalen rechtsstaatlichen Verfahren nicht passieren"

Die zentrale Frage des Verfahrens: Hätten Menschen wie Orths Tochter Johanna gerettet werden können, wenn der Landrat seinen Job gemacht hätte? „Ja, Johanna wäre gerettet worden, wenn sie rechtzeitig informiert worden wäre“, sagt Hecken. Er frage sich, um was und wen es eigentlich gehe bei den Ermittlungen. Um die Angehörigen gehe es nicht. „Hier gibt es Dinge, die eigentlich nicht passieren in einem normalen rechtsstaatlichen Verfahren.“

Hecken fordert den Justizminister, die Pressekonferenz für den morgigen Tag abzusagen. „Aus Respekt vor den Angehörigen.“Landesjustizminister Herbert Mertin (FDP) müsse jetzt handeln. Die eingesetzten Staatsanwälte seien nicht geeignet, in diesem Fall eine Entscheidung zu treffen. „Es scheint der politische Wille zu sein, dass eine Aufklärung nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erfolgt und kein Interesse an der Aufklärung am Tod unserer Tochter besteht“, sagte Orth. „Der Ball liegt nun beim Justizminister.“

Auch Werner-Michael Minwegen fordert Aufklärung: „Wir müssen unsere Stimme erheben dürfen. Ich fordere, dass Anklage erhoben wird. Es wäre ein Skandal, wenn es nicht dazu kommen würde.“ Seine Eltern lebten 700 Meter und eine Minute von einer sicheren Stelle entfernt. „Man hätte sie ganz locker retten können, wenn sie gewarnt worden wären.“

Rechtsanwalt Hecker kündigte für den Donnerstag eine weitere Pressekonferenz für den Fall an, dass die „Justiz und die Staatsanwaltschaft meinen, sie könnten so weitermachen wie bisher". Auf Anfrage von FOCUS online Earth hat die Staatsanwaltschaft Koblenz mitgeteilt, dass die Pressekonferenz morgen wie geplant laufe.

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