9. MAI IN RUSSLAND: „NUR NOCH ALTE UND KRANKE KLATSCHEN DA IM KREMLPALAST“

Türen und Fenster schließt Arkadi* am Donnerstagvormittag zu. Denn an seiner Wohnung in der Moskauer Innenstadt unweit der Basilius-Kathedrale und des Kreml werden wieder Tausende anlässlich des 9. Mai vorbeipilgern – obwohl der Rote Platz wie jedes Jahr für ungeladene Gäste hermetisch abgeriegelt ist.

Doch es sind nicht nur die klassischen Begleitumstände des wohl wichtigsten nicht religiösen Feiertages im Jahreskalender eines Russen, warum sich Arkadi in seiner Moskauer Wohnung am 9. Mai einschließt. „Wir haben Temperaturen um den Gefrierpunkt“, sagt er der Berliner Zeitung, „das hat es meiner Erinnerung nach noch nie gegeben.“ Es schneit und regnet, die Moskauer holen noch mal ihre Winterjacken raus, obwohl die Maifeiertage in Russland üblicherweise der inoffizielle Beginn des Sommers sind. Dabei steht das Moskauer Ekelwetter für den Mittzwanziger sinnbildlich für die Stimmung im Land.

Da ist einerseits die – schon fünfte – Amtseinführung Wladimir Putins. Der russische Präsident, so Arkadi, versuche gegen jedwede Gesetze der politisch vernünftigen Natur vorzugehen und wolle wohl bis ans Ende seiner Tage die Geschicke im geografisch größten Land der Erde leiten. „Ich hoffe auf ein baldiges biologisches Ende Putins“, sagt Arkadi und vergleicht die politische Elite von heute mit der sowjetischen zwischen Breschnew und Gorbatschow. Also mit den Jahren zwischen 1982 und 1985. „Es sind nur noch Alte und Kranke, die da im Kremlpalast klatschen“, so Arkadi, mit dem die Berliner Zeitung vor gut einem Jahr schon mal zum Moskauer Alltag inmitten des Ukrainekriegs sprach.

Dabei ist der 9. Mai eigentlich für Russen aller politischen Färbung ein Festtag. Bei Arkadi kämpfte der Urgroßvater bei Smolensk, bei anderen hat die Oma die Leningrader Blockade überlebt; wieder andere haben einen Urgroßonkel oder Familienmitglieder zweiten oder dritten Grades, die in der Ukraine oder Belarus fielen oder es im Frühjahr 1945 schafften, bis nach Berlin zu marschieren. Der Tag des Sieges wurde so – lange vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine – für einen Großteil der russischen Bevölkerung zum identitätsstiftenden Ereignis schlechthin.

In den vergangenen Jahren sei jedoch die Erinnerung an die „Unsterblichen“, so werden gefallene Rotarmisten in Russland genannt, zu einer staatlich organisierten Propagandaveranstaltung verkommen. Bei Arkadi sorgen insbesondere die seit einigen Tagen auf dem Moskauer Siegesplatz ausgestellten deutschen, britischen und amerikanischen Kriegstrophäen aus dem Ukrainekrieg – unter anderem Leopard-2- und Marder-Panzer – für Kopfschütteln. Die Ausstellung trägt den Titel „Geschichte wiederholt sich. Unser Sieg ist unausweichlich“.

Für Arkadi hat der Krieg in der Ukraine mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ nichts zu tun. Allen voran kritisiert er die Instrumentalisierung des Feiertages durch die politischen Eliten und die Staatsmedien. Er spricht von einem „großen dunklen Schatten“, der das Ereignis jetzt zum dritten Mal seit dem Überfall auf die Ukraine überlagere: Werbeplakate suggerieren Verbindungen zwischen 1945 und 2024; der Kreml rechtfertigt den Krieg im Nachbarland mit einer „historischen Mission“, das Tragen des orange-schwarzen Sankt-Georgs-Bändchens gilt inzwischen als Bekenntnis zum Ukrainekrieg.

Doch andererseits will Arkadi den 9. Mai auch nicht „gecancelt“ sehen. Mit Sorge und Unverständnis sieht er insbesondere das Verbot der Sowjetfahne in mehreren osteuropäischen Ländern. Auch auf den sowjetischen Ehrenmalen in Berlin ist die Flagge am 8. und 9. Mai verboten, ebenso wie die russische Fahne. „Geht man so mit einem Symbol um, das dafür stehtDeutschland von Hitler und dem Faschismus befreit wurde?“, fragt er rhetorisch. Man dürfe die Deutungshoheit und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht den Kriegstreibern im Kreml überlassen. „Aber in Berlin will man das wohl nicht verstehen.“

„Unter großen Sicherheitsvorkehrungen“, so Kremlsprecher Peskow, werden derweil die Feierlichkeiten und die Parade zum Tag des Sieges vorbereitet. So sollen schon im Vorfeld bis zu 11.000 Soldaten die minutiös geplante Militärparade geprobt haben. Traditionell bekommt die Weltöffentlichkeit eine üppige Militärparade zu sehen. Nur im vergangenen Jahr ging es im Zentrum der russischen Hauptstadt spärlicher zu: ein einziger Kampfpanzer und weniger Soldaten als sonst. Im Westen vermutete man, Russland habe möglicherweise zu wenig Panzer für die Paraden zur Verfügung und der Kreml habe vermeiden wollen, die eigenen Verluste im Ukrainekrieg deutlich zu machen.

Was wird es 2024 zu sehen geben? Vielleicht wieder die meterlangen Interkontinentalraketen? Flugabwehrsysteme? Suchoi-Kampfjets? Das Flammenwerfersystem „Tosotschka“? Fest steht: Die militärische Lage entlang der Donbass-Front ist für die Russen gänzlich anders als vor einem Jahr. Russland war damals auf dem Schlachtfeld mit empfindlichen Rückschlägen und einer anstehenden ukrainischen Sommeroffensive konfrontiert.

In diesem Jahr dagegen konnten russische Truppen mehrere ukrainische Siedlungen einnehmen. Die Initiative liegt derzeit auf Russlands Seite; Beobachter rechnen in den kommenden Tagen mit dem Beginn einer groß angelegten Offensive auf die Millionenstadt Charkiw. Die Ukraine leidet indes unter akutem Mangel an Soldaten, Waffen und Munition.

Den 79. Jahrestag des Sieges wollen sich auch einige ausländische Staatschefs nicht entgehen lassen. Während russische Touristen, chinesische Gäste und Besucher aus anderen asiatischen Ländern verdutzt auf die Polizeiketten schauen, die sich schon am Schukow-Denkmal oder in der Nikolskaja Straße um den Kreml bilden, werden Staatschefs aus mehreren Ländern eine perfekte Sicht auf der Kremltribüne genießen können.

Darunter: Die Präsidenten der Ex-Sowjetrepubliken Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan sowie die Staatsoberhäupter von Kuba, Guinea-Bissau und Laos. Putin will ein Zeichen in die Welt senden, dass Russland international nicht isoliert ist. Offizielle Vertreter aus Deutschland werden nicht erwartet – 2010 saß Bundeskanzlerin Angela Merkel noch direkt neben Putin bei der Parade.

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Die Sowjetunion hatte insgesamt 27 Millionen Tote zu beklagen. Weil die nächtliche Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde nach Moskauer Zeit auf den 9. Mai fiel, feiern Russland, Belarus und andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion das Ende des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai – im Gegensatz zu den westlichen Alliierten, die den Sieg über Nazi-Deutschland am Tag zuvor begehen. Auch in der Ukraine gedenkt man seit einigen Jahren eher am 8. Mai als am 9. Mai, um sich von Russland abzugrenzen. Im nächsten Jahr steht das 80-jährige Siegesjubiläum an.

* Namen sind geändert und liegen der Redaktion vor.

2024-05-09T04:35:04Z dg43tfdfdgfd