ANALYSE VON ULRICH REITZ - DAS KANZLER-PARADOX: JE LäNGER SCHOLZ REGIERT, DESTO MEHR SCHADET ER SICH

Olaf Scholz entfernt sich immer weiter vom Kanzleramt. Friedrich Merz kommt ihm immer näher. Der eine verliert bei der grassierenden Streitlust immer mehr Akzeptanz. Der andere hat eigene Fehler immer besser im Griff.

Olaf Scholz war kaum eingezogen ins Kanzleramt, da ließ er die Öffentlichkeit unbescheiden wissen, dass er dort länger als eine Legislaturperiode bleiben will. Inzwischen, nach zweieinhalb Jahren an der Regierung, hat sich ein Kanzler-Paradoxon herausgebildet: 

Je länger Scholz regiert, desto mehr schadet er der eigenen Ambition von der Wiederkehr und widerlegt damit die Selbstwahrnehmung. Je länger Scholz regiert, desto mehr Kredit verspielt seine Regierung. Und er selbst.

Der Abstand zwischen selbstbewusstem Anspruch und ernüchternder Wirklichkeit dürfte in den nächsten Monaten noch einmal zunehmen. Dass die Regierung, ohnehin im Ansehenstief, nicht noch weiter absinkt, ist keineswegs ausgemacht. 

Lindner ist als Minister der Erste unter Gleichen

Das größte Kanzlerrisiko ist: das Geld. Die Haushaltsberatungen über den Etat für das kommende Jahr haben mit einem veritablen Flop begonnen – weil Minister wie die Grüne Annalena Baerbock und die Sozialdemokraten Hubertus Heil und Svenja Schulze die Finanzvorgaben von Christian Lindner interpretieren, wie – nach anekdotischer Evidenz - italienische Autofahrer auf dem Land eine rote Ampel auffassen: 

Als freundliche Empfehlung, die man ebenso gut ignorieren kann. Einzelne Ressorts hätten, so der Bundesfinanzminister, exorbitante Wunschzettel eingereicht bei ihm. So, als falle für sie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen.

Um zu ahnen, wie der sich anbahnende Streit am Ende ausgeht, muss man wissen, dass Lindner als Minister der Erste unter Gleichen ist: Nur der Bundesfinanzminister verfügt über ein Vetorecht bei Staatsausgaben. 

Und weil man in der FDP ohnehin der Meinung ist, dass Sozialdemokraten und Grüne lange schon vergessen hätten, dass es sich bei den ausgegebenen Milliarden um das Geld der Steuerzahler handelt, ist jetzt ein Streit vorprogrammiert, so lang und so heftig wie noch keiner zuvor in dieser an Streitereien reichen Regierung. Damit nicht genug: 

SPD und Grüne nehmen FDP wegen Schuldenbremse unter Feuer

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Regierung und Opposition innerhalb der Regierung noch einmal grundlegend zusammenfinden, ist denkbar klein. Nicht nur, weil beim Geld die freundschaftliche Toleranz aufhört, sondern weil die Partner wider Willen konzeptionell wie Feuer und Wasser sind. 

SPD und Grüne nehmen so gut wie jeden Tag die FDP wegen deren Beharren auf der Schuldenbremse unter Feuer. Und Lindner sieht das Lieblingsobjekt der Sozialdemokraten, die Rente, längst unter Wasser.

Kaum hat man sich – unter Schmerzen - auf ein Rentenpaket Zwei geeinigt, ruft Lindner – konzeptionell nachvollziehbar – nach einem Rentenpaket Drei. 

Der rote Rentenminister Heil hätte nicht einmal etwas dagegen, auch er weiß, dass die Rente droht, abzusaufen. Aber Heil plant, was Sozialdemokraten fast immer planen: Die Misere mit frischem Geld zuzuschütten. Er würde die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen, um mehr Geld ins röchelnde System zu bringen. 

Lindner hat die Wirtschaft auf seiner Seite

Lindner hingegen will die Bürger davor bewahren, mehr in die Rente einzuzahlen – und will erreichen, dass die Bürger stattdessen länger arbeiten. Die Wirtschaft hat Lindner dabei, wenig erstaunlich, auf seiner Seite. Industriepräsident Rainer Dulger spricht schon beim Rentenpaket Zwei vom „teuersten Sozialgesetz des Jahrhunderts“.

Es koste über die nächsten 20 Jahre hinweg: 500 Milliarden Euro. Es sind Milliarden, die gegen die Demografie ausgegeben werden – Deutschland wird immer älter und steckt trotzdem immer mehr Geld, sogar progressiv ansteigend, in die Rente. 

Der Streit ist nur zu berechtigt, aber es ist nicht die einzige Quelle für Verdruss, der auch innerhalb der jeweiligen Ampelparteien noch zunehmen dürfte, denn: Die führenden Ampelianer Scholz, Robert Habeck und Lindner haben vereinbart, dass jeder sich „um Seins“ kümmert – Scholz um die SPD-Minister, Habeck um die Grünen-Minister, Lindner um die FDP-Minister. Wie pikant: 

Jetzt muss also Habeck seiner Parteifreundin Baerbock, die zugleich seine Kanzlerkandidaten-Konkurrentin ist, das von ihr erhoffte Weihnachts-, Oster- Geburtstagsgeschenk wieder wegnehmen. Olaf Scholz muss demnach Svenja Schulze erklären, dass für Entwicklungshilfe weniger drin ist, als sie gern zum Verteilen hätte. Und so weiter. 

Merz hat der CDU seinen Stempel aufgedrückt

Der Ausgang dieser Operation ist völlig offen – möglich, dass sich die Koalition dabei zerlegt. Lindner könnte irgendwann glaubhaft versichern, für diese sich anbahnende Geldorgie die Verantwortung nicht mehr übernehmen zu können. Schauen wir von hier aus auf die andere Seite: 

Je weiter Scholz sich vom Kanzleramt entfernt, desto näher kommt Friedrich Merz ihm. Der CDU-Parteitag hat ihn seinem Ziel ein großes Stück nähergebracht, und zwar vor allem aus drei Gründen: 

Erstens: Merz hat der CDU seinen Stempel aufgedrückt, und die Partei folgt ihm dabei. Die 1001 Delegierten haben das neue Grundsatzprogramm mit erstaunlichen 100 Prozent abgesegnet.

Das wichtigste Angebot, dass die CDU damit den Wählern macht, geht an jene, die sich von der Partei aus Enttäuschung über Angela Merkel abgewendet und der AfD zugewandt haben: 

Schlachtordnung für Scholz hat sich verschlechtert

Ihnen bietet die Union die Linderung ihres schlimmsten Schmerzes: Ein neues Asylrecht, das mit der unkontrollierten Migration via Verfolgten-Einwanderung Schluss machen würde. Und das in Kombination mit einer kritischen Haltung zum Islam. 

Zweitens: Nachdem Söder den CDU-Mitgliedern das persönliche Versprechen abgegeben hat, an ihm werde die Einigung auf einen gemeinsamen Kanzlerkandidaten nicht scheitern, hat sich die Schlachtordnung für Scholz und die Ampelparteien drastisch verschlechtert.

Bei letzten Mal hatte Scholz es mit einer erbittert streitenden Union zu tun und mit einem CDU-Kandidaten, dem das Kanzlerformat fehlte. Sollten Merz und Söder es schaffen, ihre Einigkeit zu wahren, wären sie vor allem als wahlkämpfendes Duo nur schwer zu schlagen.  

Merz hat gezeigt, dass er seine Impulsivität unter Kontrolle bringen kann

Drittens: Merz hat auf dem Parteitag gezeigt, dass er eine persönliche Fehlerquelle unter Kontrolle bringen kann – seine Impulsivität. Söder käme als Kanzlerkandidat nur für den Fall infrage, dass Merz sich in der Öffentlichkeit noch gravierende Fehler leistet.

Und Nordrhein-Westfalens smarter Regierungschef Hendrik Wüst ist für dieses Mal aus dem Rennen. Jedenfalls haben Söder und Merz sich so verständigt. 

Es wäre auch seltsam, kämen zwei jagderfahrene Alphatiere zu dem Ergebnis, die größte denkbare Trophäe einem Dritten zu überlassen.  

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