DIE FDP UND DIE AMPEL: CHRISTIAN LINDNER HAT SICH VERZOCKT

Alle sollen den Liberalen alles zutrauen, sogar den Bruch der Koalition. Christian Lindner hat sich und seine Partei mit einer riskanten Strategie in die Ecke manövriert.

Christian Lindner wird an diesem Wochenende erklären, wie die FDP sich gutes Regieren in Deutschland vorstellt. Die Liberalen treffen sich zum Parteitag, und schon vorab haben sie ein Zwölfpunktepapier veröffentlicht, das so ziemlich alles auflistet, was SPD und Grüne ablehnen: Kürzungen beim Bürgergeld, ein Moratorium für den Sozialstaat, ein Ende der Rente mit 63. Die große Frage des Kongresses wird sein: Will Lindner ein Ende der Koalition? Oder ist das alles nur Show, um seine Partei zu besänftigen?

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Der Name des FDP-Chefs ist unverändert mit dem Satz verbunden, mit dem er im Herbst 2017 die Jamaika-Verhandlungen aufkündigte: Es sei besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren, sagte er damals. Gilt das noch? Wo hört eigentlich richtiges Regieren auf, wann beginnt das falsche?

Lindner lässt es offen. In diesen Tagen und Wochen macht er manchmal den Eindruck, als wüsste er es selbst nicht so genau. Aus vielem, was er sagt, lassen sich implizite Drohungen herauslesen, Hinweise auf mögliche Bruchstellen.

Lindner redet wie Westerwelle

Man denke nur an die Debatten über den Haushalt für 2025, in dem eine 25-Milliarden-Euro-Lücke klafft, an die Kindergrundsicherung oder an das Gezerre um die richtige Strategie gegen die Konjunkturschwäche. Mitunter redet Lindner wie Guido Westerwelle, der einst in Reaktion auf ein Karlsruher Urteil zum Existenzminimum von »spätrömischer Dekadenz« sprach, die sich breitmache.

Der FDP-Chef gefällt sich in der Rolle des »Mad Man« der Ampel. Lindners Kalkül: Die Liberalen sollen als Player schwer auszurechnen sein. Man soll ihnen alles zutrauen – auch irrationales Handeln, ausdrücklich auch den vorzeitigen Bruch der Koalition. Ob sie ihn durch Beharren in einer Sachfrage heraufbeschwören oder selbst vom Tisch aufstehen, ist dabei am Ende zweitrangig.

Die strategische Ambiguität des Christian Lindner ist im Augenblick vor allem mit einem schwammigen Buzzword verbunden: Die FDP will eine »Wirtschaftswende« erreichen. Viel wird darunter subsumiert: Die Rente mit 63 soll rückgängig gemacht, der Soli abgeschafft, die Sanktionen für arbeitsunwillige Empfänger von Bürgergeld verschärft werden. Doch es wirkt ein wenig wahllos.

Die Liberalen präsentieren ihre Forderungen mit kämpferischem Gestus. Am Ende lassen sie aber offen, was davon sie noch während der Ampelkoalition umgesetzt haben wollen. Und wofür sie im Zweifel bis zum Äußersten gehen würden.

In der FDP-Zentrale freuen sie sich, wenn Journalisten wissen wollen, ob es sich beim gerade beschlossenen Forderungskatalog zur Wirtschaftswende um ein »Lambsdorff-2.0-Papier« handeln könnte. Jenes FDP-Konzept also, das 1982 das Ende der sozialliberalen Koalition einläutete.

Sich ihrer damaligen Bedeutung als Zünglein an der Waage zu erinnern, mag bei den Liberalen zur Selbstvergewisserung beitragen. Ein bisschen FDP pur wärmt ihnen die Seele. Ihrem Ziel, die Zeit nach der Ampel politisch zu überleben, kommen sie so allerdings nicht näher.

Die Liberalen können sich Neuwahlen nicht erlauben

Lindners Strategie bringt maximale mediale Aufmerksamkeit. Doch sie birgt auch Risiken für die Liberalen: Zum einen, weil sie sich abnutzt. Und zum anderen, weil sie Vertrauen zerstört.

Sie nutzt sich ab, weil die Umfragewerte der FDP sind, wie sie sind. Ein vorzeitiges Ende der Koalition könnte darauf hinauslaufen, dass sich die Partei ein zweites Mal in die außerparlamentarische Opposition verabschieden muss.

Alle relevanten politischen Player wissen, dass sich die FDP vorgezogene Neuwahlen nicht erlauben kann. Diese Erkenntnis schwächt Lindners Verhandlungsposition, wo auch immer in der Ampel noch etwas mit ihm zu klären ist. Vor einem Jahr, im Streit um das Heizungsgesetz, war das noch anders. Da gelang es der FDP, substanzielle Änderungen zu erzwingen.

Disruption des Vertrauens

Mit der Durchsetzungskraft schwindet auch die Bereitschaft zu Kompromissen. Und es wächst die Neigung, einmal gefundene Einigungen umzuinterpretieren, was dann zwangsläufig zu neuen, zähen Verständigungsprozessen führt. Olaf Scholz wird sich in diesem Jahr mehr als einmal gefragt haben, was Lindners Handschlag und ein gegebenes Wort von ihm noch wert sind.

Zu erleben ist eine Disruption des Vertrauens zwischen den handelnden Akteuren – der FDP-Chef hat diese Entwicklung mit dem ihm eigenen Politikstil beschleunigt. Die Ampel wollte eine Fortschrittskoalition sein. Jetzt ist sie vor allem Stillstandskoalition.

Lindner hat daran Anteil. Er taktiert. Das Land weiß nicht, woran es bei ihm ist. Er braucht eine gute Begründung, sollte er das vorzeitige Ende der Koalition wollen. Oder er braucht gute Argumente, weshalb Drinbleiben gut wäre. Nichts davon liefert er. Vermutlich, weil sich beide Optionen gerade als schlecht erweisen. Der FDP-Chef hat sich verzockt.

2024-04-27T07:18:33Z dg43tfdfdgfd