„DIE SOWJETUNION FORCIERTE IM WESTEN EINEN NEUEN BLICK AUF ISRAEL“

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf beklagt, dass die Gefahr durch den Iran kleingeredet werde – auch aufgrund der Zustände an US-Universitäten. Der israelfeindlichen Ideologie des Postkolonialismus attestiert er einen „erfolgreichen Marsch durch die Institutionen“ – der einst durch die Sowjetunion gefördert wurde.

Jeffrey Herf ist Historiker und Distinguished Professor an der University of Maryland. Der 79-Jährige forscht zum Antisemitismus in der DDR und der westdeutschen Linken.

WELT: Herr Herf, laut einer Befragung des deutschen Forschungsministeriums sehen zwölf Prozent deutscher Studenten den Hamas-Terror vom 7. Oktober als Teil eines „legitimen Befreiungskampfes“ der Palästinenser. Wie bewerten Sie das?

Jeffrey Herf: Die Barbarei vom 7. Oktober als Ausdruck eines palästinensischen nationalen Befreiungskampfes zu bezeichnen, bedeutet, den Judenhass in seiner klarsten und gewalttätigsten Form zu feiern. Der Angriff vom 7. Oktober hatte überhaupt nichts mit der Befreiung von irgendjemandem zu tun.

WELT: Auch an Universitäten in den USA wächst eine israelfeindliche Stimmung. Wie erleben Sie die?

Herf: Als emeritierter Professor habe ich auf dem Campus und als Schriftsteller die Freiheit, meine Gedanken frei zu äußern. Wenn ich mit jüngeren Kollegen spreche, merke ich aber die Effekte. Es gibt Bereiche, die völlig unterrepräsentiert sind: Wer zum islamistischen Antisemitismus forschen will, wird seit Jahren zurückgehalten. Das führt zu einem fehlenden Wissen und falscher Einschätzung der Hamas oder des Einflusses des iranischen Regimes.

WELT: Iran griff Israel mit über 300 Drohnen und Raketen an, nun hat der jüdische Staat offenbar geantwortet. Wie bewerten Sie das?

Herf: Der Angriff des Iran – gerade in Verbindung mit den Attacken der iranischen Proxys Hamas, Hisbollah und den Huthis im Jemen – zeigt, dass die Islamische Republik den Staat Israel zerstören will. Hätten Israel und seine Verbündeten nicht rund 99 Prozent der Waffen abgefangen, wären wohl Hunderte Israelis gestorben, wenn nicht sogar mehr. Iran zeigte einmal mehr, dass dessen theokratische Despotismus und religiöser Fanatismus der zentrale Konflikt im Nahen Osten sind – und zu wenig beachtet wird. Israels gezielte Reaktion vom 19. April wahrt die Möglichkeit, dass seine Beziehungen zu mehreren arabischen Ländern als Reaktion auf die Bedrohung, die sie ebenfalls im Iran und seinen Stellvertretern wahrnehmen, bestehen bleiben.

WELT: Wieso dieses Unwissen?

Herf: In den Sozialwissenschaften etwa erleben wir, wie eine postkoloniale, antizionistische Beschreibung Israels dominiert. Israel gilt dort als Kolonialstaat, als Apartheid, als Siedlerkolonie. Das Ergebnis haben wir beispielsweise in Harvard gesehen, als Dutzende Studentengruppen in Harvard das „israelische Regime“ nur einen Tag nach dem 7. Oktober für die bestialische Attacke der Hamas verantwortlich gemacht wurde. Dabei wird die Debatte über Rassismus in den USA fälschlicherweise auf Israel projiziert. Dieses Verständnis des Postkolonialismus hatte einen erfolgreichen Marsch durch die Institutionen.

WELT: Inwiefern?

Herf: Das geht zurück auf die späten 1960er-Jahre und die Neue Linke. Die Sowjetunion forcierte im Westen einen neuen Blick auf Israel als ein imperialistischer, rassistischer Vertreterstaat der USA. Dies mündete in der UN-Resolution von 1975, die den Zionismus als Form des Rassismus bezeichnet. Dabei hat auch eine Säkularisierung antisemitischer Stereotype stattgefunden: Der alte christlich entstandene Bild des übermächtigen Juden lebt im antiimperialistischen Bild des übermächtigen jüdischen Staates weiter. Was man heute Negatives über Israel behauptet, ist also nichts Neues.

WELT: Sie haben zum „unerklärten Krieg“ der DDR gegen Israel geforscht. Im damaligen Parteiorgan „Neues Deutschland“ wird Israel schon in den 1980ern ein „Genozid“ unterstellt – ein Vorwurf, der Israel heute vor dem Internationalen Strafgerichtshof gemacht wird. Sehen Sie Parallelen?

Herf: Ein gutes Beispiel, wie Weltpolitik aus dem Kalten Krieg den Weg an die Universitäten und in die Gesellschaft gefunden hat. Diese Betrachtung Israels ist nicht neu. Nachdem die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) in ihrem militärischen Vorgehen gegen Israel nicht erfolgreich war, versuchten sie es über die Propaganda, unterstützt auch durch die Sowjetunion.

WELT: Wie zeigte sich diese Unterstützung?

Herf: In der DDR: Militärtrainings, Waffenlieferungen, diplomatische Unterstützung. Sie unterstützten neben der PLO auch die syrische und irakische Regierung. Wenn die DDR erfolgreich gewesen wäre, hätte das den Staat Israel zerstört. Der Kampf gegen Israel wurde Teil eines antifaschistischen Selbstverständnisses. Und die diplomatische Unterstützung der Palästinenser war auch ein Weg für den jungen Staat, internationale Anerkennung zu erlangen.

WELT: Und die westdeutsche Linke?

Herf: Besonders bekannt dürften die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Revolutionären Zellen (RZ) sein. Sie hatten enge Verbindungen zu palästinensischen Terroristen, beteiligten sich beispielsweise an der Flugzeugentführung nach Entebbe in Uganda, bei der jüdische Passagiere von nicht-jüdischen selektiert wurden. Israel galt auch ihnen als faschistischer Staat – ein Argument, das wir nach dem Terror vom 7. Oktober wieder hören.

WELT: Wie erklären Sie sich, dass dieser Terror manchen Linken als „Widerstand“ gilt?

Herf: Lassen Sie uns auf die Revolutionären Zellen und Entebbe 1976 schauen. Das war eine Kooperation von Linksradikalen aus Deutschland und linksradikalen Palästinensern. Sie beide sahen sich dem Marxismus-Leninismus verpflichtet, dem Kommunismus. Damit waren sie allerdings nicht erfolgreich.

Die Hamas hat es geschafft, diesen „Befreiungskampf“ nun religiös aufzuladen – und ist damit eine sehr prägnante Stimme unter Palästinensern geworden. Sie hat ihre Wurzeln in der extremen Rechten, ihre Charta von 1988 ist zutiefst judenfeindlich. Sie greifen die Gleichheit der Geschlechter an, sehen den Juden als ultimativen Feind, verachten die Demokratie.

Das Besondere an der gegenwärtigen Situation ist, dass es in Europa und den Vereinigten Staaten Menschen gibt, die sich für Linke halten und dennoch die Propaganda der Hamas, einer Bewegung der extremen Rechten, wiederholen. Es wurde versäumt, das reaktionäre und gefährliche Wesen der Hamas zu begreifen und öffentlich darauf aufmerksam zu machen. Vor dem Hintergrund dessen, was wir Historiker als Unterschätzung des Faschismus und Nationalsozialismus in den 1930er-Jahren bezeichnen, beschreibe ich die letzten Jahrzehnte als eine zweite Ära der Unterschätzung.

WELT: Wie meinen Sie das?

Herf: Dass linke Aktivisten eine islamistische Organisation unterstützen, mag an ihrem blinden Hass auf Israel liegen. Ich denke, es gibt ein großes Unwissen über diese menschenverachtenden Positionen der Hamas, obwohl sie öffentlich in der Hamas-Charta von 1988 nachlesbar sind. Wir finden Bezüge von palästinensischen Islamisten zu deutschen Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren, die von Hamas in den 1980ern ideologisch reaktiviert wurden. Die antisemitische Nazi-Propaganda zielte auch ganz bewusst in die arabische Welt, das spüren wir bis heute. Die öffentliche Wahrnehmung sollte viel stärker auf der Hamas liegen.

WELT: Heute gerät zunehmend Israels Kriegsführung in den Blick, vor allem wegen der vielen zivilen Opfer.

Herf: Das unerträgliche Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung könnte damit enden, dass die Hamas sich ergibt. Bis heute halten sie außerdem unschuldige Israelis als Geisel. Nicht zuletzt litten viele Palästinenser unter der Herrschaft und der Diktatur dieser Kriminellen. Auch ihre Freiheit wird unterdrückt. Hätte die internationale Gemeinschaft Hamas früher offensiv kritisiert, hätte diese Schreckensherrschaft viel früher enden können. Und vielleicht hätte dieser schreckliche Krieg nie stattgefunden.

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