DURS GRüNBEIN üBER GAZA-KRIEG UND ANTISEMITISMUS: ICH WEIß NUR, TERROR DARF NICHT BELOHNT WERDEN

Seit dem Massaker der Hamas in Israel vom 7. Oktober 2023 und der folgenden Bombardierung Gazas ist die Debatte unter Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern aufgepeitscht wie selten. Es gibt Unterschriftenlisten und Schweigegebote. Die Autorin Lena Gorelik, die Programmleiterin des Claassen-Verlags Miryam Schellbach und die Historikerin Mirjam Zadoff geben jetzt mit „Trotzdem sprechen“ einen Essayband heraus, in dem Gedanken geordnet und abgewogen werden, in dem versucht wird, mittels persönlicher und historischer Argumente in den Austausch zu gehen. Das Buch erscheint am 25. April. Wir veröffentlichen vorab den Beitrag von Durs Grünbein.

„Es ist genug“ – soll einer der letzten Sätze gewesen sein, die man von Paul Celan gehört hat, dem Dichter der Verzweiflung, über die Tatsache der Shoah, der Ermordung von Mutter und Vater in einem deutschen Zwangsarbeitslager und der Ignoranz, mit der in großen Teilen der deutschen Nachkriegsgesellschaft über die millionenfache Ermordung der Juden Europas hinweggegangen wurde. Eine Ignoranz, die ihn ins Mark traf und die manche seiner Schriftstellerkollegen als paranoid abtaten, so wie einige der Kritiker seine Gedichte als surreale Hirngespinste diffamierten, „fern von jedem Wirklichkeitsbezug“, oder schlimmer noch, als Versuch der Mystifizierung von Auschwitz. Am Ende einer psychischen Krise, deren tiefster Grund die Leugnung der jüdischen Verfolgungserfahrung war, ertränkte er sich in der Seine in einem Moment endgültiger Einsamkeit. Sein Sohn Eric muss bis heute nicht nur mit den berühmten Versen des Vaters leben, sondern auch mit dem Vermächtnis seines Selbstmords, der, weiß Gott, mehr war als nur eine Privatsache.

„Es ist genug“ – kein Satz, auf den sich Allianzen bauen lassen, erst recht nicht, wenn sie das politische Klima, in dem Gewalt gedeiht, etwa nur einschließen, einfrieren. Denn es gibt keine Allianz mit auch nur dem flüchtigsten Antisemitismus. Er ist der Staub, der sprichwörtliche Mehltau, der sich auf alles legt und die Gemüter vergiftet, und keine Putzkraft der Diplomatie kann ihn je fortblasen, erst recht keine wohlgemeinte deutsche.

Nun aber hat sich 75 Jahre nach der Gründung des Staates, der den Juden, diesen auf ewig gejagten, verfluchten und verhöhnten Menschen, Abkommen Ahasvers, des ewig Wandernden, zum ersten Mal eine Heimstatt bot, wieder gezeigt an jenem Schwarzen Schabbat, dass sie da, wo sie sind, niemals sicher sein können, auch nicht als Friedensaktivisten, Palästina-Helfer, solidarisch gesinnte Zivilisten. Es ist ihnen verwehrt, in Ruhe zu leben, da, wo sie leben. Das ist die einfache Formel, die jedes jüdische Kind (und nicht nur in Israel) mit der Muttermilch aufsaugt.

Aber auch jedes palästinensische Kind hat seit drei oder vier Generationen ein ganz ähnliches Gefühl der Verlorenheit und des Vertriebenseins in sich aufgesaugt, davon muss ausgegangen werden. Von alters her treffen auf diesem engsten Raum Stämme aufeinander, die sich feindlich gesinnt sind. Unversöhnlich, auf die furchtbarste Weise von Gewalterfahrung geprägt und auch religiös und der historischen Überlieferung nach so verschieden, dass eine politische Einigung nicht in Sicht ist. Den Urtexten zufolge so anders geprägt wie Sara und Hagar, die Magd Saras, wie Isaak und Ismael, Abrahams verschiedene Söhne – legitim der eine und illegitim der andere, folgt man den Legenden, den Ältesten, die uns von dieser Spaltung berichten: der hebräischen Bibel, das Alte Testament genannt in christlicher Überlieferung, und dem Koran. Eine ägyptische Sklavin, auf sie geht jene Trennung zurück wie auf Ismael, von dem gesagt wurde, er werde der Stammvater vieler Völker werden. Die vielen Völker des islamischen Orients konnten damit noch nicht gemeint sein, aber sie alle konnten und können sich darauf berufen, seitdem der Prophet Mohammed, ein erfolgreicher Heerführer, den geografischen Raum neu geordnet hat, und das bis heute.

Die Stärke Israels, seine unbedingte Wehrhaftigkeit, die sich aus der Erfahrung aller bisherigen Judenverfolgung ergibt, erweist sich in the long run als ausdauernde Schwäche. Dabei ist Israel aus jedem Angriff auf sein Territorium und seine Wurzeln stärker hervorgegangen. Aber Stärke, die sonst jedem Volk, wenn sie sich eines Tages nationalstaatlich zementiert, gestattet wird, ist etwas, das man den Juden nie verzeiht, nie verzeihen wird. Das war es, was Celan bestürzte: ein Leben im dauernden Kriegszustand, das ihm als existenzielle Unmöglichkeit erschien. „Israel muß leben und dazu muß alles aufgeboten werden“, heißt es in einem Brief nach seinem einzigen Israel-Besuch, wenige Monate vor dem Freitod. „Aber der Gedanke an eine Kette von Kriegen, an das Markten und Schachern der ‚Großen‘, während Menschen einander töten – nein, das kann ich nicht zu Ende denken.“

Das gilt es zu berücksichtigen, will man sich auf die Suche begeben nach Auswegen aus einer Konfliktlage, die umso hoffnungsloser erscheint, je mehr die Schraube der Gewalt gerade wieder angezogen wird. Nicht zu begreifen, dass Israel das einzige Land auf der Erde ist, das die Atombombe wirklich zum Überleben braucht (von Nordkorea als historischem Unfall abgesehen), das einzige demokratisch verfasste Land im Orient, dass Israel die verfluchte Bombe mehr als jedes andere Land braucht – Frankreich etwa, Großbritannien oder Russland (der permanente politische Reaktorunfall) –, ist töricht, nein schlimmer noch, Ausdruck von Geschichtsvergessenheit. Das Versinken in die Geschichtslosigkeit (Karl Marx) ist die Hauptgefahr unserer Zeit.

Nie zuvor gab es so viel Schrifttum der Erinnerung, nie zuvor aber gab es auch so viel Verzerrung und Umwertung historischer Überlieferung auf allen sozialen Kanälen für die naiven Massen. Von Amerika ist nicht die Rede, solange die klassische Supermacht den „Weltpolizisten“, von eigenen Interessen geleitet, mit allen Irrtümern, zu spielen bereit ist. Gnade uns Gott, uns zänkischen Europäern, wenn sich Amerika, selber müde der Demokratie, aus dieser Rolle zurückziehen und unter einem borniert nationalistisch operierenden politischen Idioten das demokratisch erwachte Osteuropa (die Ukraine, die schon gesicherten baltischen Staaten) und damit langfristig auch Westeuropa preisgeben und mit den Autokratenstaaten dieser Welt und ihren imperialen Ambitionen alleinlassen sollte. Und geradezu böswillig ist es, die Bombe einem Erzfeind Israels wie dem Iran zuzugestehen.

Es sagt sich leicht: genug mit den vielen Toten auf beiden Seiten des Gazastreifens, genug mit der Produktion von Leichen, genug mit den Schreckensbildern, die alle Welt täglich erreichen. Kein Reim lässt sich auf das Versagen der Politik machen, vielmehr: auf ihr unermüdliches Gegeneinanderwirken. Denn dies – Gegeneinanderwirken – ist der Kern jeder Politik, die naturgemäß von einseitigen Interessen geleitet wird und nicht von der Vernunft des Ausgleichs und der Versöhnung. Die Toten holt keiner mehr ein, eine Weile existieren sie noch im Trauerraum ihrer engsten Angehörigen, der Weltöffentlichkeit sind sie bald nurmehr eine abstrakte Zahl. Keiner kümmert sich über den Tag der Vermisstenmeldung hinaus um sie, die zufällig ins Schussfeld gerieten an einem Oktobermorgen, in einer Dezembernacht, in den ersten Wochen des neuen Jahres, die vergewaltigten Frauen, vor ihren Eltern ermordeten Kinder. Was ist, wenn in Wahrheit der Nihilismus, Töten um des Todes willen, die Kampfform diktiert im Gelände des Zorns, in den Endmoränen eines festgefressenen Konfliktes? Gibt es einen Gipfelpunkt des Leidens? Von dem aus das Ende der Leiden sich absehen ließe? Nach welchen Regeln der Statistik? Eine rhetorische Frage, wie so viele, die in diesen Tagen gestellt werden. Auf welcher Seite stehst du? Ich weiß nur, Terror darf nicht belohnt werden. Ich weiß nur: Israel, was selber es falsch gemacht hat und siedlungspolitisch jeden Tag falsch macht (das lässt sich korrigieren), ist von Feinden umzingelt, realen Feinden, und bewertet von einem größtenteils missgünstigen Publikum aus Fernsehzuschauern weltweit.

Wie viele andere da draußen wüsste auch ich gern, wie das Töten zu beenden ist – wie herausfinden aus dem Sumpf der Vernichtung? Dazu Franz Kafka, Tagebuch, 16. Januar 1922: „Erstens: Zusammenbruch, Unmöglichkeit zu schlafen, Unmöglichkeit, zu wachen.“ Elf Tage später kommt der schlaflose Autor mit einer Lösung: „Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe …“. Ich habe das Zitat unterstrichen, weil es mich seit Langem als Hoffnungsformel begleitet. Es läuft wie der Schatten einer höheren Moral mit mir mit, einer praktischen Vernunft, um es mit Kant zu sagen. Ein wahrhaft radikaler Universalismus kann am Ende nur einer des Gewaltverzichts sein.

Es ist mir der Kompass in meinem Leben gewesen, seit jeher. Ich trug das Zitat viele Jahre lang bei mir, auf einen Zettel notiert, doppelt und dreifach unterstrichen – so wie Pascal, in den Mantelsaum eingenäht, sein berühmtes Mémorial von 1654, ein Stück Papier, das in stammelnden Worten eine Erleuchtung festhielt: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden, Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi.“ Damals beim Wehrdienst in der NVA trug ich es bei mir, später beim Studium, noch viel später in den verwirrenden Diskussionen mit all den entschiedenen Linken in meiner Umgebung, die sich nachher, als die Mauer (der antifaschistische Schutzwall) gefallen war, oft mir nichts, dir nichts als ebenso eloquente Rechte entblößten. Mein Kafka-Traum (den ich mit Václav Havel teilte und vielen Unbekannten der samtenen Revolution) war ein allgemeiner, im Angesicht der Drachen des Totalitarismus, die uns bedrohten, sicher kein realitätsblinder Unterwerfungspazifismus, er war der Beginn einer Moralethik auf neuem Fundament – im Wissen um all die mörderischen Kämpfe in diesem Jahrhundert der Extreme. Die historische Reaktion auf das routinierte Morden von Rechts und Links, diese sich verschränkenden, dialektisch begründeten Tötungen anarchistischer, republikanischer, kommunistischer, faschistischer, antifaschistischer „Märtyrer“. Die Frage, die mich lange beschäftigte, war: Wofür musste Olga Benario, Häftling in Ravensbrück, wofür Erich Mühsam im KZ Oranienburg sterben? Mühsam, einer der wenigen, der früh, weil er die Kettenreaktion voraussah, aus der Totschlägerreihe heraustrat und schrieb: „Wer in der Meinung, damit seiner Sache dienen zu können, die Waffe gegen einen widerstrebenden Nebenmenschen erhebt, verletzt die Grundidee des Anarchismus, die Gewaltlosigkeit.“

Aber nun hat sich wie so oft der Wind wieder einmal gedreht. Wir leben in Zeiten eines erpresserischen Terrorismus, inszeniert von partikularen Kampfgruppen wie von mächtigen Staaten, Ausdruck der asymmetrischen Kriege, in denen das klassische David-und-Goliath-Prinzip sich systematisch verkehrt. Denn wer ist jetzt David, und wer ist Goliath, der Riese? Dass David heute in Gestalt der israelischen Armee auftritt und sich gegen Raketen und Drohnen aus dem Lager der Schwächeren zur Wehr setzt, ist der Skandal, der viele empört. Dies ist der Grund für die weltweite Mobilisierung gegen den Staat Israel, vor allem unter der akademischen Linken, großen Teilen der Künstlerszene und nun auch der Vereinten Nationen. Die Umkehrung des Kräfteverhältnisses ist gleichsam die biblische Dimension, die eine redliche Beurteilung des Konfliktes erschwert. Die Kriegshistoriker unter den Beobachtern des Israel-Palästina-Konflikts haben die Verkehrung des alten Prinzips seit langem bemerkt und konstatieren: Seit der ersten Intifada (dem palästinensischen Aufstand infolge eines Zusammenstoßes am Grenzübergang Erez im nördlichen Gazastreifen) gab es ein Umdenken in der zuschauenden Weltöffentlichkeit. Jahrhundertelang war es das traurige Privileg der Juden, die verfolgte Minderheit zu sein, erst mit der Gründung eines eigenen Staates, von einer Mehrheit der Vereinten Nationen gefördert, beginnt sich das Kräfteverhältnis zu ändern, auf Kosten der dort ansässigen arabischen Bevölkerung, deren Vertreter, vom Ausland befeuert, sich jedem Kompromiss verweigern.

Wer mit nackten Händen Steine schleudert gegen eine hochgerüstete Militärmacht mit Gummigeschossen und Sturmgewehren, der muss wohl David sein, und der Riese ist diesmal Israel, das Missverhältnis der Opferzahlen beweist es. Anders gesagt, in puncto psychologischer Kriegführung liegen die Kämpfer der Hamas vorn, sie sind die scheinbar Schwächeren und die Armee Israels, die mit aller Härte vordringt auf der Suche nach den entführten Geiseln (ohne Rücksicht auf Zivilisten), herausgefordert von einem Mordkommando, dessen Tunnel und Raketenabschussbasen es zu neutralisieren gilt, gerät ins Zwielicht und finden sich in der Position des Goliath wieder. Die Zerstörung Gazas, wiewohl zunächst Reaktion auf eine Mordaktion, die an die Pogrome im zaristischen Russland erinnert, setzt nun die Juden als solche ins Unrecht und wird zur Rechtfertigung für eine Welle von Antisemitismus weltweit – weil jeder Jude ein Jude ist und damit haftbar gemacht wird für alles, wogegen der Judenstaat (egal, wer ihn regiert) sich wehren muss, will er nicht untergehen.

Wen interessiert schon, dass Israel immer nur eine historische Momentaufnahme ist (bis zur nächsten Wahl) und Benjamin Netanjahu, der regierende Ministerpräsident, demnächst hoffentlich zur Verantwortung gezogen werden wird für seine Verfehlungen – vor allem für die Preisgabe von Teilen der eigenen Bevölkerung? Was jetzt geschieht, erinnert an die Zerstörung Karthagos im Dritten Punischen Krieg, es bringt die Weltordnung durcheinander und führt schon jetzt zu einem Zerwürfnis zwischen der Schutzmacht USA, Teilen der europäischen Verbündeten und Israel. Was ist damit gewonnen, wenn irgendein Cato der Neuzeit schreit: Carthaginem esse delendam – anders gesagt, dass Gaza zerstört werden muss? Gegen die politischen Ursachen des Konflikts, soviel ist klar, hilft keine Friedensrhetorik, aber erst recht kein Aufruf zur Isolation Israels, kulturell und wirtschaftlich (BDS). Wir sind in lauter postkoloniale und schon wieder neoimperiale Vernichtungskämpfe verstrickt, in denen am Ende vor allem Zivilisten umkommen. Und dann die Verrohung – woher kommt die Verrohung?

Links und Rechts sind seit langem politisch austauschbare Formeln geworden, als würde ein Betrunkener im Spiegel beim Waschen die eigenen Hände betrachten.

Sahra Wagenknecht, die Wächterin der untergegangenen DDR (SED-Mitglied der letzten Stunde), gründet, finanziert mit privaten Spendenmillionen eine Bewegung und dient sich dem Beherrscher Russlands Putin und seinem Wolfsgesetz an, um einen Burgfrieden mit dem zahlungskräftigsten Imperialisten der Stunde zu schließen und den Hebel anzusetzen an diese Republik der Zerstrittenen. Das wäre die falsche Allianz. Keine Allianz jedenfalls mit den antiisraelischen Krawallmachern, die Universitäten besetzen, Vorlesungen stören, Diskussionen verhindern, Ausstellungen boykottieren oder, wie zuletzt geschehen, die Rezitation eines Textes von Hannah Arendt, und dies nur, weil die aus Hitlerdeutschland vertriebene Denkerin Jüdin war.

Die deutsche Gesellschaft krankt an politischem Krebs. Bei den kommenden Wahlen werden wir sehen, was jede weitere Aufspaltung (Freie Wähler, Werteunion usw.) in Zeiten einer mächtiger werdenden extremen Rechten (AfD) bewirkt, die mit ihrer Vision von der Sprengung des Parteiensystems Deutschland durcheinanderwirbelt wie seit langem keine Partei. Mag sein, dass die Demokratie sich am besten aus sich selbst heraus regeneriert und ein Verfassungsschutz nur Verwirrung stiftet auf dem Weg der politischen Selbstverständigung, wie Kritiker neuerdings meinen.

Alles halb so schlimm, könnte ein Historiker aus der Zukunft sagen. Aber was heißt das, seit auch der historische Materialismus, dem ein verlorener Denker wie Walter Benjamin das letzte Wort zusprach, kapitulieren musste unter den Realitäten der von Hitler und Stalin geschaffenen Welt?

Der Pakt zwischen den beiden Diktatoren, ein gegenseitiges Täuschungsmanöver, von Hitler planvoll gebrochen mit dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, wirft als das, was er war, der Versuch eines Schulterschlusses gegen die Demokratien des Westens, einen langen Schatten, in dem einem Kind des 20. Jahrhunderts noch immer das Frösteln ankommen kann. Jemand wie ich, aufgewachsen in dem von Moskaus Getreuen gegründeten Staat DDR, wird diesen Pakt bei aller antifaschistischen Rhetorik, mit der er erzogen wurde, nie ganz vergessen können. Für immer bleibt er das verratene, das gebrannte Kind. Einem wie mir spricht Hannah Arendt aus dem Herzen mit ihrer Analyse rechter und linker totalitärer Herrschaft, die den Vergleich nicht scheut (und dazu keinen Historikerstreit braucht) – aus der eigenen Erfahrung, der jüdischen, die von Heimatlosigkeit, Staatenlosigkeit alles weiß. „Bevor die totalitären Bewegungen die Macht haben, die Welt wirklich auf das Prokrustesbett ihrer Doktrinen zu schnallen, beschwören sie eine Lügenwelt der Konsequenz herauf, die den Bedürfnissen des menschlichen Gemüts besser entspricht als die Wirklichkeit selbst, eine Welt, in der die entwurzelten Massen mithilfe der menschlichen Einbildungskraft sich erst einmal einrichten können und in der ihnen jene ständigen Erschütterungen erspart bleiben, welche wirkliches Leben den Menschen und ihren Erwartungen dauernd bereitet.“

Die Pointe ist nur: Es bleibt ihnen nichts erspart, weil autoritäre Herrschaft jede einzelne Existenz aufs Spiel setzt und zuletzt alle in den Abgrund ihrer Vernichtungspolitik reißt. „Die besessene Blindheit, die der Realitätsflucht der Massen in eine in sich stimmige fiktive Welt eigen ist, entspricht ihrer Heimatlosigkeit in einer Welt, in der sie nicht mehr existieren können, weil der anarchische Zufall in Form vernichtender Katastrophen ihrer Herr geworden ist.“ Ein Befund, an dem sich bei aller demokratischen Nestwärme und scheinbaren Stabilität der sogenannten freien Welt, wie sich nun zeigt, wenig geändert hat.

Gibt es denn so etwas wie gesellschaftliche Mitte, eine Mehrheit der Unteilbaren, und was bewirkt ihr temporärer Zusammenschluss auf öffentlichen Straßen und Plätzen, in den Zentren der großen Städte? Ist dies die Allianz, die für den Fortbestand der stets zerbrechlichen Demokratie bürgt? Wenn die Jetztzeit, das vielbeschworene „Nie wieder“, eben nicht mehr das Modell einer messianischen Perspektive eines radikalen Humanismus ist, sondern bloß der verschärfte Ausdruck der jeweils jüngsten Vergeblichkeit des erreichbaren Heils. Für das es keinen Plan gibt außer dem, die finale Klimakatastrophe gegen alle Widerstände innerhalb der zerstrittenen Weltunordnung doch noch abzuwenden.

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