FLüCHTLINGSKRISE 2015: DAMALS VERSPRACHEN POLITIKER, DASS MIGRANTEN GOLD WERT SIND – UND HEUTE?

„Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen. Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das.“ 

Dieser Satz 2015 von Kanzlerin Angela Merkel ist inzwischen international bekannt und nach wie vor umstritten. Bis heute wird er zitiert und zerpflückt. 

2015 und 2016 waren die Jahre, als Zigtausende Kriegsflüchtlinge aus Syrien, aber auch Afghanen und Iraker Hunderttausende Asylanträge stellten. Doch die Kanzlerin gab sich zuversichtlich – andere Politiker und Experten ebenfalls. Sie malten die Lage in den hellsten Farben aus.

Dass Flüchtlinge mehr wert seien als Gold, dass sie ab 2030 die Renten der Babyboomer zahlen und Deutschland zu einem besseren Land machen würden. In Anspielung auf den Sieg bei der Fußball-WM 2014 erklärte die damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt kurz nach der Grenzöffnung: „Wir sind Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe!“ An Bahnhöfen hielten Tausende jubelnde Menschen Willkommensschilder hoch, beklatschten die Ankommenden, nahmen Flüchtlinge auf – und halfen, wo sie konnten.

Inzwischen, neun Jahre später, ist die Stimmung gekippt, auch weil alles nicht so rosig ausging. Die Flüchtlingskrise brachte und bringt Kommunen, Gemeinden und Städte in die Bredouille, weil die Migranten kaum noch unterzubringen sind. Die Kriminalität von Ausländern nimmt laut jüngsten Zahlen des BKA dramatisch zu. Und die Regierung zeigt sich in Debatten über Grenzkontrollen – mal dafür, mal dagegen – über die Bezahlkarte – mal dafür, mal dagegen – oder die hohen Anteile von nicht deutschen Bürgergeldempfängern ohnmächtig.

Die Berliner Zeitung wollte von Wortführern von damals wissen, ob sie nach wie vor Flüchtlinge als Bereicherung sehen, ob die Integration in den Arbeitsmarkt gelungen ist oder viele nur an den Ausgabeschaltern des Sozialstaats hängen?

Marcel Fratzscher ist einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands und leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Als vor neun Jahren die erste Flüchtlingswelle losging, prophezeite er: „Viele der Geflüchteten werden die Renten der Babyboomer zahlen.“ Der Arbeitsmarkt sei hervorragend aufgestellt: „Wir haben eine Million freie Stellen.“

Eines seiner Argumente: Bis zum Jahr 2030 werden fünf Millionen Berufstätige aus den geburtenstarken Jahrgängen in Rente gehen. Da bräuchte es Einzahler in die Rentenkasse. 

Fratzscher steht immer noch zu seinen Aussagen von damals, sagt er im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Meine Aussage war schon sehr provokativ. Mir ging es aber nicht darum, dass nur noch die Geflüchteten die Rente der Babyboomer zahlen, aber sie leisten einen Beitrag dazu. Das gilt heute noch genauso wie damals.“

Ihm gehe es um zwei wesentliche Punkte, sagt Fratzscher. Der erste sei, dass in Deutschland mittlerweile 3,3 Millionen Schutzsuchende leben. „Darunter befinden sich viele junge Menschen, die ein sehr langes Arbeitsleben vor sich haben, und jeder, der arbeitet, zahlt in die Sozialversicherung ein“, so der Ökonom. 

Der andere Punkt laut Fratzscher ist: „Ich bin fest davon überzeugt, dass Migrantinnen und Migranten zwar kurzfristig eine erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Belastung für Deutschland bedeuten, jedoch langfristig einen essenziellen Nutzen auch für die Wirtschaft schaffen, ohne den viele Unternehmen nicht überleben könnten und viele Bürgerinnen und Bürger empfindliche Einschnitte ihres Wohlstands erleben müssten.“ 

Und war es bislang erfolgreich, Migranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Fratzscher sagt Ja, auch wenn es besser sein könnte. Aber immerhin hätten fast 55 Prozent der zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland gekommenen Menschen eine sozialversicherungspflichtige Arbeit gefunden. Er sei daher nach wie vor sicher: „Der Schlüssel ist die Integration in den Arbeitsmarkt.“

Der Ökonom sagt weiter: „Jetzt kann man sagen, aber das ist viel zu wenig. Die Deutschen haben einen Anteil von 80 Prozent. Klar, darüber lässt sich streiten. Auch woran es liegt, dass wir nicht schneller Fortschritte machen und mehr in Arbeit bringen.“ Er verweist auf viele bürokratische Hürden und mangelnde Integrationskultur, die den Geflüchteten in den Weg gelegt wird, um eben Fuß zu fassen. „Da brauchen wir viel mehr Pragmatismus“, sagt er. 

Fratzschers Fazit nach neun Jahren: Deutschland sei nach wie vor wirtschaftlich auf Zuwanderung angewiesen, weil immer noch ein riesiger Fachkräftemangel herrsche. „Bereits heute sind 1,8 Millionen Stellen vakant, in zehn Jahren könnte diese Zahl wegen der Demografie noch um fünf Millionen steigen.“ Auch gering und nicht qualifizierte Beschäftigte fehlten vielerorts, auf dem Bau, in der Gastronomie, in Hotels und in vielen anderen Dienstleistungsbranchen. „Auch Menschen, die ganz einfache und eine weniger gut bezahlte Arbeit machen, sind wichtig für Unternehmen. Sie brauchen nicht nur hoch qualifizierte Ingenieure“, so Fratzscher.

Derzeit haben 632.700 Menschen aus Asylherkunftsländern eine Beschäftigung (Stand: Juli 2023), die meisten von ihnen in sozialversicherungspflichtigen Stellen (540.400). Zudem gab es 92.300 geringfügig Beschäftigte.

Damit sei die Zahl der Geflüchteten in Arbeit in den letzten Jahren laut Mediendienst deutlich gestiegen: Im Vergleich zu Ende 2014 – bevor viele Geflüchtete nach Deutschland kamen – gibt es mehr als siebeneinhalbmal so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus Asylherkunftsländern (Ende 2014: 70.000). 

Neben Forschern wie Fratzscher begrüßten auch Wirtschaftsverbände den Zustrom. 2016 positionierte sich die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) mit dem Slogan: „Ankommen in Deutschland – Gemeinsam unterstützen wir Integration“. Was ist daraus geworden? Der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks sagt zur Berliner Zeitung: „Die deutsche Wirtschaft braucht dringend Fachkräfte. Neben Energiekosten und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen wird der Fachkräftemangel von Unternehmen seit mehreren Jahren als Risiko für die Geschäftsentwicklung genannt.“

Deshalb sei es wichtig, weitere Potenziale auszuschöpfen. „Viele Menschen mit Fluchthintergrund leisten inzwischen einen Beitrag zur Fachkräftesicherung – oftmals mit Unterstützung der Betriebe.“ Die Erfahrungen aus dem deutschlandweiten Netzwerk „Unternehmen integrieren Flüchtlinge“ mit fast 4000 Mitgliedern machten das deutlich: „Viele Unternehmen engagieren sich seit 2016 besonders intensiv für die Integration von Geflüchteten in Ausbildung und Beschäftigung. Gleichzeitig haben sich seither die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür insgesamt verbessert.“

Allerdings steige seit einiger Zeit erneut der Druck auf die Migrations- und Integrationsinfrastruktur. Der Vize-Chef der DIHK gesteht ein: „Die hohe Anzahl Asylsuchender bringt Kommunen, Städte und Behörden an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Diese Überforderung birgt die Gefahr, dass die Integration vor Ort nicht ausreichend gewährleistet werden kann und damit die Akzeptanz in der Gesellschaft sinkt.“

Auch Unternehmer sind laut Dercks zunehmend besorgt. Sein Fazit nach neun Jahren: „Der Wirtschaftsstandort Deutschland lebt gleichzeitig von Internationalität und Vielfalt. Daher ist es wichtig, dass es auch künftig eine Willkommenskultur für die Menschen gibt, die einen Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten können und wollen.“ Ein zentraler Baustein sei die rasche Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Er fordert: „Damit dies in der Praxis noch besser gelingt, müssen die behördlichen Verfahren vereinfacht und die Digitalisierung der Verwaltung vorangetrieben werden. Darüber hinaus brauchen wir breit verfügbare und flexible Sprachkursangebote.“

Michael Müller war zur Zeit der Flüchtlingswelle 2015/16 Regierender Bürgermeister von Berlin. Doch wie war das damals, als Bilder von unwürdigen Zuständen in den ewig langen Warteschlangen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales um die Welt gingen? Und die Abkürzung der eigentlich untadeligen Behörde Lageso bald zum Synonym für das Versagen einer ganzen Stadt bei der Aufnahme Zigtausender aus aller Welt wurde? 

Gibt es etwas zu bereuen, Herr Müller?„Nein“, sagt der SPD-Politiker, „es war 2015/16 unsere humanitäre Pflicht, denen zu helfen, die zu uns flüchten. Und sie ist es heute auch“.  Müller geht aber noch einen Schritt weiter und sagt: „Zuwanderung wird vielfach diffamiert. Dabei ist es doch gut, dass wir uns nach Jahrzehnten endlich gesagt haben: Wir wollen und brauchen Zuwanderung.“ Dennoch gehöre zur Wahrheit aber auch: „Als Land Berlin konnten wir 2015/16 vieles nicht allein steuern.“ 

In der Rückschau habe der von ihm geführte damalige rot-schwarze Senat vieles richtig gemacht. Bei allen Schwierigkeiten bei der Unterbringung – bekanntlich waren zum Beispiel einige Sporthallen mehr als zwei Jahre lang durch Flüchtlinge belegt– habe er „keine Überforderung der Aufnahmegesellschaft gesehen, und ich sehe sie auch jetzt nicht“. Müllers Fazit: „Die Solidarität der Berlinerinnen und Berliner hat funktioniert.“

Dennoch sieht er in der Rückschau Verbesserungsbedarf. „Es gibt schon Punkte, bei denen ich im Nachhinein sage: Das hätten wir besser machen können und sollen.“ So hätten „wir die Nachbarschaften von Unterkünften sicher noch besser einbinden und mitnehmen können“. Bei diesen Gelegenheiten hätten „wir offener die kulturellen Unterschiede zwischen den Flüchtlingen und der Aufnahmegesellschaft ansprechen sollen“.

Manches hat Müller aber auch einfach erst später gelernt, wie er sagt. „Wir hätten uns mehr Begleitung, Unterstützung und Beratung von Experten holen sollen. So, wie wir es bei Corona dann gemacht haben.“

Die Pandemie hat Müller bekanntlich nicht nur zu einem Dauergast in Fernsehtalkshows gemacht, sondern diese Zeit hat auch das Bild eines bundesweit souverän auftretenden Regierungschefs geprägt. Das wäre ohne vielfältige Beratung einer ganzen Corona von Fachleuten von Robert-Koch-Institut und Charité kaum möglich gewesen.

Das habe bei der Flüchtlingskrise ein paar Jahre vorher noch gefehlt, sagt Müller. Möglicherweise hätten diese Berater damals zu mehr Offenheit geraten. Jedenfalls sagt Müller heute: „Wir hätten offener die kulturellen Unterschiede zwischen den Flüchtlingen und der Aufnahmegesellschaft ansprechen sollen.“

So oder so glaubt der heutige Außenpolitiker – Müller ist im Bundestag Vorsitzender der Enquete-Kommission zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan – nicht an ein baldiges Ende des Massenzustroms. Im Gegenteil: „Wir werden künftig eher mehr als weniger Migranten sehen, weil viele Landstriche in Afrika und im Nahen Osten aufgrund des Klimawandels und Kriegen nicht mehr bewohnbar sein werden. Deshalb wird es umso wichtiger, dass wir diese Staaten stabilisieren.“

Auch andere Politiker und Experten haben vor neun Jahren Einschätzungen abgegeben. Einige rudern inzwischen zurück, wie der damalige SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel, der sich inzwischen aus der aktiven Politik zurückgezogen hat.

Gabriel saß im September 2015 mit einem „Refugees welcome“-Button im Bundestag und hielt es für verkraftbar, dass Deutschland auch in den nächsten Jahren in großem Stil Flüchtlinge aufnimmt. „Ich glaube, dass wir mit einer Größenordnung von einer halben Million für einige Jahre sicherlich klarkämen“, sagte der SPD-Chef damals. „Ich habe da keine Zweifel – vielleicht auch mehr.“ Es wurden bekanntlich mehr, inzwischen sind es um die 5 Millionen. 

Bereits 2017 ruderte er aber zurück und relativierte, dass er anfangs wie die Kanzlerin den Satz „Wir schaffen das“ wie ein Mantra vor sich hergetragen hatte. Er sagte später: „Ich habe von Anfang davor gewarnt, naiv zu sein und schon im September 2015 für punktuelle Grenzkontrollen geworben, damit nicht weiter jeden Tag 5000 Flüchtlinge in das Land kommen. Aber gerade in der SPD wollte das niemand hören“, kritisierte Gabriel rückblickend.

2023 forderte er dann eine Wende in der Asylpolitik, sagte: „Wir versagen bei der Integration zugewanderter Migranten in weiten Bereichen“. Deutschland brauche eine Asylwende, wie beispielsweise in Dänemark, so Gabriel. 

Aktuell antwortete er auf Nachfrage der Berliner Zeitung nicht. Auch eine Anfrage bei Charlotte Knobloch, wie sie die aktuelle Lage bewertet, blieb unbeantwortet.

Knobloch schloss sich 2015 an, als Deutschland für sein Verhalten in der Flüchtlingskrise international viel Lob erhalten hatte. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern schrieb damals in einem Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung: „Dieses Deutschland zu erleben ist wohltuend, gerade für die jüdische Gemeinschaft. Nicht zuletzt für jene, deren Erinnerung an Verfolgung und Flucht noch immer präsent ist.“

Das Land, das im 20. Jahrhundert für die schrecklichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte verantwortlich gezeichnet habe, sei heute zu Recht ein „Synonym für Hoffnung und Sicherheit“, so Knobloch.

Allerdings mahnte sie auch: Deutschland dürfe nicht die Fehler früherer Jahre bei der Integration von Einwanderern wiederholen. Die Eingliederung der Flüchtlinge in die Gesellschaft, das Schulsystem, den Arbeitsmarkt und in die Kultur und Werte Deutschlands: „Das ist das eigentliche Mammutprojekt“, schrieb sie damals. 

Und: Wer hier leben wolle, müsse verstehen und respektieren, dass die aktive Erinnerung an den Holocaust ebenso deutsche Staatsräson ist wie der Kampf gegen Antisemitismus sowie das Einstehen für die Existenz und die Sicherheit Israels.

Auch SPD-Politiker Martin Schulz, 2016 noch Präsident des EU-Parlaments, reagierte nicht auf die Anfrage der Berliner Zeitung. Dieser sagte beispielsweise damals: „Was die Flüchtlinge zu uns bringen, ist wertvoller als Gold. Es ist der unbeirrbare Glaube an den Traum von Europa. Ein Traum, der uns irgendwann verloren gegangen ist.“

Der Satz ging in den sozialen Netzwerken durch die Decke, auch weil er verkürzt wiedergegeben worden war. Schulz wehrt sich bis heute dagegen, dass er nur gesagt habe, „Was die Flüchtlinge zu uns bringen, ist wertvoller als Gold“. Sondern dazu gehöre, dass Migranten mehr als andere an den europäischen Traum glauben würden. Daher seien sie Gold wert. 

2017 suchte sich Schulz trotzdem als Kanzlerkandidat der SPD die Flüchtlingspolitik als Wahlkampfthema aus, viele bescheinigten ihm dann auch einen etwas zu romantisierenden Blick auf die Lage. „Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft“, sagte er immer wieder. Zu lange sei über Flüchtlinge und Migranten unter dem Sicherheitsaspekt diskutiert worden, damit müsse jetzt Schluss sein. Schulz scheiterte als Kanzlerkandidat, inzwischen ist er Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuletzt äußerte er sich in einem Interview, dass ihm das Erstarken der AfD schwere Sorgen mache. 

2024-04-19T04:25:52Z dg43tfdfdgfd