HANNOVER MESSE: WIE SICH DER KANZLER UND DIE INDUSTRIE BEHARKEN

Bundeskanzler Olaf Scholz ist stolz auf das, was die Ampel schon geschafft hat. Der Industrie reicht es bei Weitem nicht. BDI-Präsident Siegfried Russwurm zeichnet ein düsteres Bild.

Wie sich der Kanzler und die Industrie beharken

Am Morgen danach war Siegfried Russwurm wieder der Alte. Der mächtige Lobbyist, der die Ampelregierung kritisiert. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, der sagt, dass die beiden vergangenen Jahre verlorene Jahre für den Wirtschaftsstandort Deutschland gewesen seien. In seiner Eröffnungsrede zur Hannover-Messe am Sonntagabend lobte Russwurm die deutsche Industrie, schwärmte von deren Innovationskraft, äußerte kein kritisches Wort in Richtung von Bundeskanzler Olaf Scholz, der in der ersten Reihe im Kongresszentrum in Hannover sitzt. Der Saal ist voll. Und vor Gästen streitet man nicht. Norwegen ist in diesem Jahr das Partnerland der Industrieschau und in der ersten Reihe sitzt auch Ministerpräsident Jonas Gahr Støre.

Dafür nutzte Scholz seine Rede für eine verzögerte Replik auf das Interview, das Russwurm Anfang April der Süddeutschen Zeitung gegeben hatte. Er lobte die Arbeit der Ampel, also auch seine: das höhere Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien, die Kraftwerksstrategie, die Pläne für das Wasserstoffkernnetz. Man habe nun alle Elemente für die Energieversorgung der Zukunft zusammen. Der Weg dahin sei "anstrengend und fordernd gewesen". Und dann spricht Scholz den Lobbyisten direkt an: "Wenn Sie mich fragen, lieber Herr Russwurm, dann waren das zwei Turnaround-Jahre." Das Wort Turnaround benutzt Scholz in seiner Rede einige Male. Das ist eine Sprache, die Manager wie Russwurm verstehen. Als Turnaround beschreiben Betriebswirte den Zeitpunkt, an dem eine Firma die Verluste hinter sich lässt und wieder Gewinn macht.

Das Urteil über die Lage der Firma Deutschland scheint eine Frage der Perspektive zu sein. Scholz und Russwurm wirken wie zwei, die von entgegengesetzten Standorten auf die Firma Deutschland schauen. Sie klingen bisweilen so, als würden sie von parallelen Welten sprechen: in der einen, Scholz' Welt, läuft es gut, und das Management der Firma, also die Ampelregierung verfolge eine "moderne Angebotspolitik", wenn sie in Infrastruktur investiere, für bezahlbare Energie sorge, die Bürokratie abbaue, so Scholz. Angebotspolitik. Wieder so ein Wort, es stammt aus der Wirtschaftspolitik, an der es, so sehen das manche Lobbyisten, Scholz doch fehlt. Die beiden vergangenen Jahre, auch das hatte Russwurm im SZ-Interview gesagt, waren auch verlorene Jahre der Wirtschaftspolitik. Der Graben zwischen Industrie und Ampel ist nicht kleiner geworden.

Deutschland ziehe die anderen Länder in Europa mit runter

In der Welt der Industrie, für die Russwurm spricht, läuft es gerade nicht so gut. "Die gesamtwirtschaftliche Lage in Deutschland stimmt uns dieses Jahr nicht froh", sagt Russwurm in der Pressekonferenz des BDI am Montag, dem Tag danach. "Wir haben die Datenlage, die Faktenlage. Wir reden nicht über könnte und wollen." Für Russwurm klingt in Deutschland alles nach Moll, "das ist keine Schwarzmalerei ... Die Fakten sind, wie sie sind".

Also, wenn man es in Tongeschlechtern ausdrücken mag: Industrie Moll, Kanzler Dur. Für die Diskrepanz in der Wahrnehmung hat Russwurm auch eine "einfache Erklärung". Der Kanzler beschreibe "Input-Maßnahmen" der Bundesregierung, die bestreite er gar nicht. "Aber wir sind als Unternehmer gewohnt, darauf zu schauen, was dabei herauskommt. Das, was die Bundesregierung bisher getan hat, ist aller Ehren wert, aber es reicht nicht." Deutschland liege gemessen am Wirtschaftswachstum im internationalen Vergleich auf den letzten Plätzen. Persönlich seien er und der Kanzler sich nicht gram, sagt Russwurm: "Wir sehen nur manche Dinge anders." Ein weiteres Absinken der Industrieproduktion könne sich Deutschland nicht leisten.

Die Wirtschaft im Euro-Raum dürfte in diesem Jahr real nur um einen guten halben Prozentpunkt wachsen, so Russwurm. Deutschland ziehe die anderen Länder in Europa mit nach unten. "Wenn wir Glück" haben, reiche es in Deutschland für ein schwaches Wachstum von 0,3 Prozent, das aber nur, wenn die Konsumausgaben endlich anzögen und die Investitionen nicht weiter sinken. Die Industrieproduktion in Deutschland werde 2024 um 1,5 Prozent sinken, erwartet der BDI: "Wir sind mehr Nachläufer als Treiber."

Russwurm spricht für die gesamte deutsche Wirtschaft, also für energieintensive Zweige wie die Chemie- und die Zementindustrie, aber auch für den Maschinenbau, die Elektro- und Digitalindustrie, wo der Anteil der Energie an den Kosten deutlich kleiner ist. In der Pressekonferenz der Verbände kommen nach Russwurm auch Gunther Kegel, Präsident des Elektro- und Digitalverbandes ZVEI, und Karl Haeusgen, Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA. Ihre Forderungen ähneln denen des BDI: langfristig planbare Energiekosten und niedrigere Netzentgelte, eine Eindämmung der, wie Kegel sagt, "bürokratischen Überregelungsfantasien", eine Senkung der Unternehmenssteuern.

Das wirtschaftliche und geopolitische Umfeld sei "sehr, sehr herausfordernd", sagt VDMA-Präsident Haeusgen in der Pressekonferenz am Montag. Es gibt ein wenig Lob für die Reformen der Ampel und mehr Kritik. Das Wachstumschancengesetz hätte eine Chance sein können, sagt er, "leider ist es zu einer Spielzeugeisenbahn geworden". Ihm fehle in der aktuellen Wirtschaftspolitik die "Leidenschaft zur Freiheit", sagt Haeusgen: "Wir hatten schon viele Jahre keinen Kanzler und keine Kanzlerin mit Leidenschaft und Interesse für die Wirtschaft." Es falle ihm jetzt schwer, das zu sagen, aber dann sagt Haeusgen es doch. Der letzte, der ihm da einfällt, ist Gerhard Schröder. Die Ampel habe die Bedeutung der Industrie erkannt. Haeusgen lobt Finanzminister Christian Lindner sehr und auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der zugewandt sei und offen für sachlich richtige Ideen wie etwa CCS, also die Abscheidung und Verpressung von Kohlendioxid. Und der Kanzler? "Olaf Scholz ist, wie er ist", sagt Haeusgen: "nicht so extrovertiert und sicherlich kein Feierbiest."

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