ISRAEL-GAZA-KRIEG - USA SANKTIONIERT ISRAELISCHE ARMEE: WASHINGTONS MISSTRAUENSBEWEIS

Die USA treffen Maßnahmen gegen einen Siedlerführer – und erstmals auch gegen eine Einheit der israelischen Armee. Damit wird deutlich, wie zerrüttet Washingtons Verhältnis zur Netanyahu-Regierung ist.

Die USA hatten seit Wochen gewarnt: Wenn die israelische Regierung, die Polizei oder das Militär nichts tue, um die extreme Gewalt jüdischer Siedler gegen Palästinenser im Westjordanland einzudämmen, dann müsse Washington handeln. So berichtet es die liberale Tageszeitung »Haaretz«.

Dass das US-Außenministerium nun tatsächlich das Netzah-Yehuda-Bataillon sanktionieren wird, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Washington im Umgang mit Israel die Geduld verliert. Die Amerikaner versuchen offenbar, Tel Avivs Politik durch Strafmaßnahmen zu beeinflussen. Es ist ein erstaunlicher Misstrauensbeweis gegen die Regierung von Premier Benjamin Netanyahu.

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Eine Militäreinheit für Ultraorthodoxe – und radikale Siedler

Das 1997 verabschiedete sogenannte Leahy-Gesetz soll verhindern, dass US-Hilfe an ausländische Militäreinheiten geht, die sich Menschenrechtsverstöße haben zuschulden kommen lassen. Laut US-Medien hatte eine Kommission des US-Außenministeriums bereits vor Monaten empfohlen, mehrere im Westjordanland eingesetzte israelische Einheiten zu sanktionieren. Das Bataillon Netzah Yehuda (deutsch »Judas’ Sieg«) müsste dadurch etwa auf M-16-Sturmgewehre sowie Fahrzeuge und andere Ausrüstungsgegenstände aus US-Produktion verzichten. Auch Spenden aus den USA wären nicht mehr möglich.

Die Einheit wurde 1999 exklusiv für streng religiöse Soldaten gegründet. Neben ultraorthodoxen Männern dienen darin besonders viele nationalreligiöse Siedler sowie Extremisten der »Hilltop«-Jugend. Netzah Yehuda ist immer wieder durch Gewaltausbrüche und Disziplinlosigkeiten aufgefallen. Spätestens seit Januar 2022 stand die Einheit unter Beobachtung der USA. Damals hatten Angehörige des Bataillons den 80-jährigen US-Bürger Omar Asad festgenommen und misshandelt, bis er schließlich starb. Wenig später wurde Netzah Yehuda auf die Golanhöhen versetzt. Mittlerweile kämpft die Einheit im Gazastreifen, als Teil der ebenfalls berüchtigten Kfir-Brigade.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zeigte sich empört über den Washingtoner Beschluss. Er sprach von einem »Gipfel der Absurdität« und einem »moralischen Tiefpunkt«. Bei X postete er: »Gegen die israelische Armee dürfen keine Sanktionen verhängt werden!« Seine Regierung werde mit allen Mitteln gegen diese Maßnahmen vorgehen. Benny Gantz, Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, erklärte, die Verhängung von US-Sanktionen gegen die Einheit sei ein gefährlicher Präzedenzfall und sende in Zeiten des Krieges die falsche Botschaft »an unsere gemeinsamen Feinde«.

Die USA hatten sogar erwogen, zwei israelische Minister zu sanktionieren

Neben Netzah Yehuda werden die US-Strafmaßnahmen nun auch den prominenten Rechtsradikalen Ben-Zion »Benzi« Gopstein treffen. Das seit Jahresbeginn dritte US-Sanktionspaket, das sich gegen gewalttätige Siedler richtet, nimmt außerdem zwei israelische Organisationen ins Visier, die Geld für bereits sanktionierte Personen sammeln.

Gopstein ist Gründer der rechtsextremen Organisation »Lehava«, die die Überlegenheit des jüdischen Volkes und eine strikte Abgrenzung gegenüber nicht jüdischen Menschen vertritt. Er ist ein enger Verbündeter des Polizeiministers Itamar Ben-Gvir. Laut »Haaretz« hätten die USA sogar in Erwägung gezogen, Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich selbst zu sanktionieren. Davon habe man wegen zu erwartender diplomatischer Verwerfungen Abstand genommen. Etwa zeitgleich mit den USA gab die Europäische Union Sanktionen gegen »Lehava« und mehrere gewalttätige Siedler bekannt.

Matthew Miller, Sprecher des US-Außenministeriums, beschrieb »Lehava« als eine Organisation, »deren Mitglieder sich an destabilisierender Gewalt im Westjordanland beteiligt haben«. Die USA forderten Israel auf, »Angriffe durch gewalttätige extremistische Siedler zu verhindern und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen«. Man werde nicht zögern, »zusätzliche Schritte zu unternehmen, um der Rechenschaftspflicht Nachdruck zu verleihen, falls erforderlich«, sagte Miller.

Yagil Levy, ein auf das israelische Militär spezialisierter Soziologe der Open University of Israel, sagt: »Die Biden-Regierung hat offenbar verstanden, dass sich das Westjordanland in eine rechtlose Zone verwandelt hat.« Dort agierten radikale Siedler oft sogar in Kooperation mit Armee-Einheiten gegen palästinensische Bewohner. Levy verweist darauf, dass seit dem 7. Oktober bereits 18 palästinensische Gemeinden komplett vertrieben worden seien. Diese Dynamik im sogenannten C-Gebiet, das Israel militärisch kontrolliert, hat die israelische Nichtregierungsorganisation B’tselem umfangreich dokumentiert. Besonders schlimm war es zuletzt: Nachdem ein junger Siedler ermordet worden war, hatten jüdische Extremisten in der vergangenen Woche mehr als ein Dutzend palästinensische Orte attackiert und teilweise zerstört. Mehrere Palästinenser wurden getötet.

Weitere 13 Milliarden Dollar US-Hilfe – wenn Israel die Bedingungen erfüllt

Auch während des mehr als sechs Monate andauernden Feldzugs in Gaza habe sich gezeigt, dass die Armeeführung »nicht in der Lage oder nicht bereit ist, die Truppe zu disziplinieren«, sagt Yagil Levy. Er verweist auf etliche Social-Media-Videos, in denen Soldaten Gewalt, Plünderei und Zerstörung in Szene setzen.

Nach der irrtümlichen Tötung von sieben humanitären Helfern der Nichtregierungsorganisation World Central Kitchen in Gaza Anfang April hatten die USA erstmals mit einer Kürzung der Militärhilfe gedroht. Die Regierung von US-Präsident Joe Biden forderte eine Untersuchung des Vorfalls und eine spürbare Steigerung der Hilfslieferungen in das Gebiet. Schon regulär unterstützt Washington Israel jährlich mit Militärhilfen im Wert von 3,8 Milliarden Dollar. Im Krieg sind die Transfers noch deutlich gestiegen. Am Samstag genehmigte das US-Repräsentantenhaus nun ein weiteres 13-Milliarden-Dollar-Paket an Militärhilfen für Israel. Doch will Washington offenbar, dass Israel für den Transfer weiterer Waffen Bedingungen erfüllt.

Yagil Levy sieht in den Maßnahmen »den Versuch der USA, die Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich der israelischen Regierung obliegen«. Es gehe darum, radikalen Siedlern Einhalt zu gebieten und Einheiten der Sicherheitskräfte zu disziplinieren. »Wir sehen, dass die USA ihre Geduld und ihr Vertrauen verloren haben«, sagt er.

Eran Etzion, früher Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats und ein Kritiker Netanyahus, sieht die neuen US-Sanktionen als »Teil einer umfassenden, wenn auch verspäteten Strategie« des Bündnispartners. Der »israelischen Regierung, dem israelischen Volk, der demokratischen Wählerschaft in den USA sowie der gesamten internationalen Gemeinschaft« solle ein Signal gegeben werden: Die Vereinigten Staaten verschlössen nicht länger die Augen vor dem Unrecht, das von Siedlern und anderen nicht demokratischen Gruppen ausgeht. Sie versuchten, klare Grenzen zu ziehen, auch weil die israelische Justiz untätig geblieben sei.

Etzion glaubt allerdings, dass es »wahrscheinlich noch viel härterer amerikanischer Maßnahmen« bedarf, damit wirklich etwas Gravierendes passiert: »Zumindest so lange das Kabinett Netanyahu das Land weiter regiert.«

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