MYANMAR: JETZT ZWINGT DIE JUNTA SOGAR ROHINGYA-MäNNER IN DIE ARMEE

In Myanmar sind die Rebellen auf dem Vormarsch. Um sie aufzuhalten, lassen die Militärherrscher nun selbst Angehörige jener Minderheit für sich kämpfen, an der sie unlängst einen Genozid verübt haben.

Abul wurde zum Verhängnis, dass er dem Heimweh nachgab. Der junge Angehörige der muslimischen Rohingya-Minderheit war aus Furcht davongerannt, nachdem Myanmars Armee in sein Dorf im Teilstaat Rakhine eingerückt war – und verkündet hatte, alle jungen Männer würden rekrutiert. So erzählt er es.

Fünf oder sechs Tage und Nächte hielt Abul sich versteckt. Doch dann schlich er sich ins Haus seiner Mutter im Township Buthidaung zurück.

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Es war der 25. Februar 2024. Gegen Mitternacht schreckten Abul und seine Familie davon auf, dass es an der Tür klopfte. Draußen standen Soldaten, sie drangen in das Haus ein, schnell entdeckten sie den 21-Jährigen. Zwei Soldaten richteten ihre Waffen auf ihn, auch seine Verwandten bedrohten die Männer. Abul hatte keine Wahl, er musste mitgehen. Kollaborateure unter den Nachbarn hatten ihn verraten, vermutet er.

Die Soldaten verschleppten ihn zu einem Militärstützpunkt, der nur einen halben Kilometer vom Haus der Familie entfernt liegt. Dort würden sie ihn und andere Zwangsrekrutierte für den Kampfeinsatz schulen. Die jungen Männer sollten bei der Aufstandsbekämpfung helfen, mit der Waffe in der Hand. Gerade mal zehn Tage Training, dann wollten ihre Kommandeure sie an die vorderste Front schicken.

All das wäre schon furchteinflößend genug für einen jungen Mann, der einfach in Frieden leben möchte. Für Abul und 31 Leidensgenossen aus seinem Dorf war die Lage noch ungleich makabrer: Denn sie gehören allesamt den Rohingya an. Also jener Volksgruppe, an der Myanmars Militär 2017 einen Genozid verübte. Ausgerechnet sie sollten jetzt der Armee beispringen, die sie unlängst noch auslöschen wollte?

Fadenscheinige Rechtsgrundlage

Rund zwei Monate später erreicht der SPIEGEL Abul in Bangladesch, wohin er geflüchtet ist. Die Internetverbindung ist schlecht, zudem spricht Abul kein Englisch, weshalb das Interview mithilfe eines Dolmetschers schriftlich per WhatsApp erfolgt. Ein Gewährsmann hat den Kontakt hergestellt.

Die Details von Abuls Geschichte lassen sich nicht überprüfen, doch seine Erzählung deckt sich mit dem, was andere Betroffene etwa der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) berichtet haben. Um Abul zu schützen, nennt der SPIEGEL weder seinen wahren Namen noch die Nummer seines Bataillons.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. HRW zufolge hat Myanmars Armee seit Anfang Februar mindestens 1000 Rohingya-Jugendliche und -Männer zum Dienst an der Waffe gezwungen.

Die fadenscheinige Rechtsgrundlage dafür bildet ein Wehrpflichtgesetz, das die Junta bereits 2010 erlassen, aber erst Anfang Februar 2024 in Kraft gesetzt hat. Auf dem Papier gilt die Wehrpflicht nur für myanmarische Staatsangehörige – wobei die meisten Rohingya keine sind, betrachtet die Zentralgewalt sie doch als illegale Einwanderer. Viele Rohingya sind daher staatenlos.

Im Rakhine-Staat herrscht Apartheid

Während des Genozids 2017 flohen rund 700.000 von ihnen ins Nachbarland Bangladesch. Doch 630.000 leben weiterhin im Rakhine-Staat, davon 150.000 in Camps – teils Internierungslager im engeren Sinne, teils eingezäunte Ortschaften einschließlich der umliegenden Felder, die niemand ohne schriftliche Erlaubnis der Autoritäten verlassen darf.

Hinter dem Stacheldraht die Rohingya, auf der anderen Seite die buddhistische Volksgruppe der Rakhine, nach denen der Teilstaat benannt ist: Es herrscht Apartheid.

»Zwar findet kein Abschlachten wie 2017 mehr statt, doch die Rohingya leben weiterhin in einem Freiluftgefängnis«, sagt der Rohingya-Aktivist Nay San Lwin, der in Deutschland lebt und mit zahlreichen Quellen im Rakhine-Staat in regelmäßigem Kontakt steht.

Die Rohingya sind den Launen der Soldaten ausgeliefert

Ihre Lebensumstände machen die Rohingya verletzlich für Missbrauch. In einem Internierungslager könne ein lokaler Armeekommandeur einfach vorfahren, auf zehn junge Männer zeigen und sie auf einem Lastwagen abtransportieren, sagt Richard Horsey, Myanmar-Experte der International Crisis Group.

»Zudem kommt hier Rassismus ins Spiel: Die Offiziere des myanmarischen Militärs verachten die rangniedrigsten Soldaten, behandeln sie miserabel und sehen sie als Personen mit sehr geringem Status an«, sagt Horsey. »Die Rohingya sind in ihren Augen der Bodensatz. Warum sollte man ausgerechnet ihnen die Rekrutierung ersparen?«

Wehren können sie sich kaum. Ein Rechtsstaat, der den Namen verdient, existiert in Myanmar nicht.

Und das Militär braucht Kanonenfutter. Es wäre eine Untertreibung, zu sagen, dass Myanmar nicht zur Ruhe kommt, seit die Generäle sich vor gut drei Jahren zurück an die Macht geputscht haben. Ganz im Gegenteil wird der Widerstand gegen die Junta immer heftiger, insbesondere seit zahlreiche Rebellengruppen im Oktober 2023 eine landesweite Offensive angestoßen haben.

Mittlerweile kontrolliere das Militär nicht einmal mehr die Hälfte des Landes, so die Expertengruppe Special Advisory Council for Myanmar. Seit dem Putsch sind mindestens 50.000 Menschen in Myanmar gewaltsam ums Leben gekommen, davon mindestens 8000 Zivilisten.

In den unteren Rängen des Militärs soll die Moral miserabel sein. Die Gruppe People’s Embrace, die Zweifelnde aus dem Militär herauslösen will, behauptet, sie habe bereits rund 5000 einfache Soldaten beim Desertieren unterstützt.

Die Gefechtslage ist unübersichtlich. Vereinfacht lässt sich aber sagen, dass die Gegner der Junta überall auf dem Vormarsch sind. Etwa die Karen National Liberation Army (KNLA), die kürzlich die bedeutende Handelsstadt Myawaddy an der Grenze zu Thailand eingenommen hat.

Oder die von ethnischen Rakhine dominierte Arakan Army (AA), die inzwischen den Norden des Rakhine-Staats kontrolliert. Darunter Teile des mehrheitlich von Rohingya bewohnten Townships Buthidaung, aus dem Abul stammt.

Leere Versprechen des Militärs

Der Aktivist Nay San Lwin vertritt die These, dass das Militär bei der Rekrutierung von Rohingya zwei Ziele gleichzeitig verfolge: »Sie wollen sie als menschliche Schutzschilde auf dem Schlachtfeld benutzen«, sagt er, »und sie wollen Spannungen zwischen den muslimischen Rohingya und den buddhistischen Rakhine schüren.« Würden die beiden Volksgruppen einander bekriegen, könne sich das Militär zurücklehnen, so geht die Logik.

Nay San Lwin zufolge verspricht das Militär Rohingya, die sich rekrutieren lassen, einen 50-Kilo-Sack Reis, einen Sold in Höhe von 150.000 myanmarischen Kyat (umgerechnet 67 Euro) – sowie nach Absolvierung der militärischen Ausbildung ein Identitätsdokument. Das wäre ein erster Schritt zum Erwerb der staatsbürgerlichen Rechte. Insbesondere letzteres Versprechen sei aber nicht eingehalten worden. Ähnliches berichtet auch HRW.

Auch im Exil ist Abul nicht sicher

Der Zwangsrekrutierte Abul desertierte, nachdem man seine Einheit informiert hatte, sie würde tags darauf in den Kampf geschickt – gegen »die AA-Terroristen«, so lautet seine Wortwahl. »Ich hatte große Angst. Ich wusste, ich würde nicht überleben«, sagt er. Zwei Tage zuvor seien 200 Militärangehörige auf demselben Schlachtfeld umgekommen, wo nun auch er und seine Kameraden kämpfen sollten.

Weil Abul einen Schulabschluss hat, galt er unter seinen Kameraden als Führungsfigur, damit gingen offenbar Privilegien einher: Am 6. März erlaubten seine Vorgesetzten ihm, außerhalb des Stützpunkts frühstücken zu gehen. Er lief davon. Ein Motorradtaxifahrer knöpfte ihm 300.000 Kyat (134 Euro) ab, um ihn an die Grenze zu Bangladesch zu fahren.

Abul schaffte es hinüber. Nun schläft er mal bei Verwandten, mal bei Freunden. Im Distrikt Cox's Bazar, wo das weltgrößte Geflüchtetenlager Kutupalong liegt, in dem zuletzt Bandenkriege zwischen Gruppen hoffnungsloser Geflüchteter ausgebrochen sind. »Ich war drüben nicht sicher und bin es hier auch nicht«, sagt er. Von seinen Leidensgenossen aus seinem Bataillon hat er kein Wort mehr gehört.

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