„OFFENSICHTLICH RECHTSWIDRIG, VERFASSUNGSWIDRIG, RECHTSMISSBRäUCHLICH VON DER KOALITION“

Vor dem Bundesverfassungsgericht wollen die Union und die Linke die Wahlrechtsreform der Ampel zu Fall bringen. CDU-Chef Merz sieht „in geradezu grober Weise“ die Chancengleichheit verletzt. Heftig diskutiert wird der Umstand, dass die Koalition ihr Gesetz in letzter Minute noch änderte.

Es ist trubelig, als Friedrich Merz (CDU) und Alexander Dobrindt (CSU) am Dienstagmorgen im Foyer des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe sprechen. Eine Gruppe jugendlicher Zuschauer will die Eingangskontrolle zum Gericht passieren, ohne die Lautstärke der Gespräche zu drosseln. Mehrere Personen geben Jacken und Mäntel an der Garderobe ab. Fast könnte man den Unionsfraktions-Chef und den Vorsitzenden der CSU im Bundestag in dem Gewühle überhören. Dabei wollen Merz und Dobrindt noch etwas loswerden, bevor die brisante Verhandlung beginnt.

Man sei heute vor dem Bundesverfassungsgericht, sagt Merz vor Pressevertretern, weil man „leider“ gegen das von der Ampel im vergangenen Jahr beschlossene Wahlrecht klagen „müsse“. Es verletze in „geradezu grober Weise“ die Chancengleichheit der politischen Parteien. Möglich wäre, dass die CSU künftig alle Wahlkreise in Bayern gewinne, aber kein einziges Mandat antreten könne. „Offensichtlich rechtswidrig, verfassungswidrig, rechtsmissbräuchlich von der Koalition“, sagt Merz. Noch eine Spur schärfer wird Dobrindt: Das Wahlrecht entwerte die Erststimme und greife unzulässig in den Wettbewerb der Parteien ein, sagt er. Er sei hier, um die „Ampel-Manipulation des Wahlrechts“ zu „stoppen“.

Es ist eine der wichtigsten Verhandlungen des Jahres, die an diesem Dienstag und Mittwoch vor dem Verfassungsgericht stattfindet. Im vergangenen Jahr änderte die Ampel-Koalition das Wahlrecht – gegen den Willen der Opposition. Sie tat das, um den zuletzt stetig gewachsenen Bundestag zu verkleinern, wie ihre Fachpolitiker erklärten. Unter anderem die Parteien CSU und Linke kritisieren allerdings, dass es der Ampel auch um den eigenen Machterhalt gehe. Sie sei nicht nur in eigener Sache, sondern auch „für“ die eigene Sache tätig geworden, erklärt Dobrindt später im Gerichtssaal. Der Prozessbevollmächtigte der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, formuliert es vor Gericht so: Er glaube, dass eine Mehrheit des Bundestags ihre Mehrheit „missbraucht“ habe, um zwei Parteien, nämlich CSU und Linke, aus dem Bundestag zu schicken.

Ungewöhnlicher Schulterschluss

Vor allem zwei Aspekte des neuen Gesetzes will das Gericht prüfen. Zum einen die sogenannte Zweitstimmendeckung, die die Ampel neu einführte. Sie sieht vor, dass nicht mehr jeder Gewinner eines Wahlkreises automatisch in den Bundestag einzieht – sondern nur dann, wenn seine Partei auch genügend Zweitstimmen erzielt hat. Vor allem Parteien wie die CSU wären davon negativ betroffen. Sie hat in der Vergangenheit mehr Direktmandate gewonnen, als ihr nach den Zweitstimmen zustünden. Zum anderen geht es um die sogenannte Grundmandatsklausel, die die Ampel abschaffte. Sie ermöglichte es Parteien, auch dann in den Bundestag einzuziehen, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erzielten. Voraussetzung war, dass in mindestens drei Wahlkreisen direkt gewannen. Davon profitierte in der Vergangenheit die Linke.

Es sei zu klären, „ob die Zweitstimmendeckung und die Fünf-Prozent-Sperrklausel ohne das Korrektiv der Grundmandatsklausel mit grundlegenden Wahlrechtsgrundsätzen und der Chancengleichheit der Parteien vereinbar“ seien, sagt die Vorsitzende des Zweiten Senats, Doris König. Auch müsse geprüft werden, wie weit die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers reiche. Klar ist schon jetzt: Kommt das neue Wahlrecht wie beschlossen, könnte sich die Zusammensetzung des Bundestags erheblich ändern.

Die Linke wäre nach dem neuen Wahlrecht draußen, wenn man die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 zugrundelegt. In Bayern blieben sieben von 46 bislang meist von der CSU eroberten Wahlkreisen unbesetzt, rechnet der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vor. Es dränge sich der Verdacht bei Teilen der Koalition auf, „dass man unliebsame Wettbewerber hier auf jeden Fall dezimieren wollte“, sagt er WELT am Rande der Verhandlung. Noch folgenreicher wäre es, wenn die CSU künftig unter fünf Prozent der Stimmen bliebe. Sie könnte dann keinen Kandidaten der zuletzt 45 gewonnenen Wahlkreise nach Berlin schicken. Auch bei Wählern würde es zur Enttäuschung führen, sagt Dobrindt, etwa wenn sie einen siegreichen Kandidaten wählten, der sie am Ende aber nicht im Bundestag vertreten könne. „Dieses Gesetz schadet der Demokratie.“

Sachverständige, die am Nachmittag vor dem Gericht sprechen, erklären zwar, dass die Direktwahl in ihrer Bedeutung tendenziell überhöht werde. Vielen Wählern seien die direkt antretenden Kandidaten gar nicht bekannt, sagt etwa der Parteienforscher Frank Decker. Allerdings könne es gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Wähler verstoßen, wenn Wahlkreise nicht zugeteilt werden, obwohl sie gewonnen wurden. Immer wieder fragen König und die anderen Richter am Dienstag nach. Etwa ob die Linke-Fraktion überhaupt ein Rechtsschutzbedürfnis habe, da sie doch inzwischen gar nicht mehr als Fraktion existiere. Einmal dreht sich Dobrindt während der Verhandlung um, um angeregt mit Gysi zu sprechen.

Heftig diskutiert wird am Dienstag die Frage, ob es ein Problem ist, dass die Ampel ihr Wahlrecht in letzter Minute noch änderte. Im ursprünglichen Gesetzentwurf zum Wahlrecht war von einer Streichung der Grundmandatsklausel noch nichts zu lesen. Erst kurz vor der entscheidenden Abstimmung im März 2023 ergänzte die Ampel das Gesetz entsprechend. Die komplette Abschaffung der Grundmandatsklause habe die Unionsfraktion „komplett überrascht“, sagt Merz in der Verhandlung. Er habe die Ampel-Fraktion förmlich darum gebeten, die Abstimmung zu vertagen, um die Tragweite der Rechtsänderung zu bedenken. Ihm selbst sei diese Tragweite mit Blick auf die CSU in dem Moment gar nicht klar gewesen. Diesem Ansinnen sei die Ampel aber nicht nachgekommen.

Eine der Prozessbevollmächtigten des Bundestags, Jelena von Achenbach, erklärt, dass das Gesetzgebungsverfahren im Einklang mit den Regeln der Geschäftsordnung des Parlaments stattgefunden habe. Die Abgeordnetenrechte seien trotz kurzer Frist gewahrt worden. Überdies, sagte Achenbach, könne es ein „politisches Momentum“ für Gesetzgebungsverfahren geben, das man nicht verstreichen lassen könne. Anders gesagt: Es sei gegebenenfalls notwendig, schnell ein Gesetz zu beschließen, wenn die Mehrheit der Ampel bei einer Verzögerung nicht mehr gesichert sei.

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