UKRAINE-KRIEG: DAS BRD-SZENARIO – NATO-BEITRITT, DAFüR LAND AN RUSSLAND?

Als Stian Jenssen, der Kabinettschef des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, im August 2023 seinen Versuchsballon bei einer Podiumsdiskussion steigen ließ, erntete er vor allem wütende Proteste. Jenssen hatte vorgeschlagen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, nachdem diese auf die von Russland annektierten Gebiete verzichtet habe. „Lächerlich“, „unakzeptabel“ schallte es damals aus Kiew zurück, Jenssens Vorschlag bediene das russische Narrativ. Westeuropäische Politiker waren „überrascht“. Und schließlich ruderte Jenssen zurück: So hätte er das nicht sagen sollen, gestand er.

Leider. Denn der Mann hatte recht. Er hatte etwas vorgeschlagen, was in der Vergangenheit überall in der Welt ganz gut funktioniert hat: ein Deal, der darauf beruht, kollektive Sicherheit gegen Territorium einzutauschen. Südkorea akzeptiert den Status quo auf der Halbinsel und erhält dafür von den USA Sicherheitsgarantien aufgrund eines bilateralen Abkommens zusammen mit amerikanischen Truppen. Nordkorea hat eine ähnliche Konstruktion, mit deren Hilfe China seine Sicherheit garantiert.

Die Bundesrepublik und die DDR verzichteten auf eine gewaltsame Wiedervereinigung und die ehemaligen deutschen Ostgebiete und bekamen dafür Sicherheit in multinationalen Bündnissen, kombiniert mit der Stationierung von Truppen der jeweiligen Schutzmacht. Übertragen auf die Ukraine hieße das: Russland garantiert den annektierten Gebieten und ihren Bewohnern Sicherheit vor ukrainischen Angriffen und die Nato garantiert der übrigen Ukraine Sicherheit vor russischen Angriffen. Man könnte das, wie hier letzten August vorgeschlagen, mit entmilitarisierten und international verwalteten Zonen garnieren, mit denen faktische Gebietsverluste politisch erträglicher gemacht werden und ein Institutionengeflecht entsteht, in dem beide Seiten wieder Vertrauen aufbauen können. Vielleicht war das schon letztes Jahr unrealistisch. Jetzt ist es das auf jeden Fall.

Denn als Jenssen seinen Versuchsballon steigen ließ, stand die Ukraine noch wesentlich besser da als jetzt: Sie hatte genug Munition, die westlichen Waffenlieferungen kamen verlässlich und regelmäßig, die Präsidentschaftswahlen in den USA waren noch in weiter Ferne und niemand drohte mit Blockaden im amerikanischen Kongress mit Blick auf Waffenlieferungen. Es wäre damals auch noch genug Zeit vorhanden gewesen für ausgiebige Verhandlungen, an denen ja nicht nur Russland und die Ukraine, sondern auch die Nato- und EU-Mitgliedsländer hätten beteiligt werden müssen. Jenssens Vorschlag war also überhaupt nicht so abstrus, wie er vielen damals erschien. Aber wie man weiß, reicht es nicht, recht zu haben. Man muss auch noch zur richtigen Zeit recht haben. Und damals glaubten alle, die ukrainische Regierung eingeschlossen, sie könnten ihre Ausgangsposition für Verhandlungen noch weiter verbessern.

Denn jetzt, also unter viel ungünstigeren Umständen als im Sommer letzten Jahres, taucht Jenssens Vorschlag wieder auf und macht Karriere: Die Ukraine solle auf die annektierten Gebiete verzichten und dafür in neuen Grenzen der Nato beitreten. Darüber wurde informell am Rande des letzten Nato-Außenministertreffens in Brüssel diskutiert, was wiederum dazu führte, dass nun überall Spekulationen über einen solchen möglichen Deal in den Medien auftauchen. Sehen wir uns im Detail an, was notwendig wäre, um einen solchen Deal zu schließen.

Da ist zunächst das Problem, dass Russland ja nicht nur Gebiete annektiert hat, die es militärisch kontrolliert, sondern auch solche, in denen im Moment noch die ukrainische Armee steht. Nehmen wir an, dafür lässt sich eine Lösung finden. In Brüssel verstecken sich Politiker gerne hinter der berühmten Formel, nur die Ukraine könne über Gebietsverzichte entscheiden. Aber wenn die letzten Wochen etwas ganz klar und brutal gezeigt haben, dann ja wohl die vollkommene Abhängigkeit der Ukraine von westlichen Hilfs- und Waffenlieferungen. Ohne die kann die ukrainische Armee vielleicht noch fliehen, aber nicht mehr kämpfen. Wenn sich die Nato und Russland einig sind, wird ein Streit um die Zugehörigkeit eines Teils der Oblaste Cherson oder Saporischschja kaum einen Deal verhindern. Was einen Deal mit Sicherheit verhindern wird, wäre eine Lage, in der der Ukraine nicht nur die Soldaten, sondern auch die Waffen ausgehen, weil die Republikaner im Kongress, etwa im nächsten Jahr, Entscheidungen über Waffenlieferungen blockieren.

So ähnlich hat Putin das ja auch selbst in einem Interview gesagt: „Es wäre lächerlich, wenn wir jetzt Verhandlungen führen würden, nur weil ihnen (den Ukrainern, Anm. d. A.) die Munition ausgegangen ist.“ Recht hat er. Nach der gleichen Logik hätte er aber auch keinen Grund zu verhandeln, solange die Präsidentschaftswahlen in den USA nicht entschieden sind. Kein Deal mit den USA unter Biden wird so gut für ihn sein wie der Deal, den er eventuell mit Trump abschließen kann. Deshalb hat Putin bis zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen keinen Grund, überhaupt zu verhandeln – es sei denn, er bekommt ein Angebot, das so gut für ihn und so schlecht für die Ukraine ist, dass es nicht einmal Trump überbieten kann. Der Teil der Ukraine, der danach noch der Nato beitreten kann, dürfte dann extrem klein sein.

Der Präsident der USA, Joe Biden, hat sein Ukraine-Hilfspaket durch den Kongress bekommen. Das macht die russische Haltung dann vielleicht etwas flexibler. Aber am Grunddilemma ändert es nichts: Vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen hat Putin keinen Grund, zu verhandeln.

Für einen solchen Deal, egal wie er aussieht, gibt es aber auch in der Ukraine eine Menge Hindernisse. Da er territoriale Änderungen vorsieht, müsste dafür die Verfassung nach einem zweistufigen Verfahren geändert werden. Es braucht dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und ein Referendum. Zu Beginn des Krieges hat Selenskyj ohnehin versprochen, jegliche Friedensregelung einem Referendum zu unterwerfen. Es wird schwierig sein, den Wählern zu erklären, warum man wegen des Krieges Parlaments- und Präsidentschaftswahlen verschieben muss, aber dennoch ein Referendum über eine Verfassungsänderung durchführen kann – in einer Lage, in der sieben Millionen Ukrainer im Ausland als Flüchtlinge leben und nicht abstimmen können und auf circa einem Fünftel des Territoriums nicht abgestimmt werden kann, weil es russisch besetzt ist. Natürlich geht das – aber es braucht Zeit und wird mit Sicherheit angefochten werden, egal wie es ausgeht. Wer also jetzt einen Deal „Land gegen Sicherheit“ vorschlägt, sollte sich gut überlegen, wie er den vor den amerikanischen Wahlen in trockene Tücher bekommt – falls Russland so nett ist, sich auf so etwas einzulassen.

Erstaunlicherweise bestehen die höchsten Hürden für einen solchen Deal aber auf der Seite derer, die ihn dieser Tage so heftig diskutieren. Damit es zu einem schnellen Deal – womöglich noch vor den Wahlen in den USA kommt –, müsste die Nato die Ukraine unmittelbar nach ihrem Gebietsverzicht als Mitglied aufnehmen. Dafür braucht es die Zustimmung aller Mitgliedsländer. Was das heißt, weiß man seit den Beitritten von Schweden und Finnland: Jeder noch so kleine Mitgliedsstaat kann den Beitritt monate- oder jahrelang verzögern. Blockier-Kandidaten gibt es inzwischen auch deutlich mehr als letzten Sommer: Prorussische Regierungen sind nicht nur in Ungarn, sondern auch in der Slowakei und demnächst vielleicht auch in Kroatien an der Macht. Wie die Türkei auf einen anstehenden Nato-Beitritt der Ukraine reagieren wird, steht in den Sternen. Natürlich kann man Erdogan, Fico und Orbán ihre Einwände buchstäblich abkaufen – so wie Schweden und die USA das ja auch mit der Türkei getan haben. Aber auch das braucht Zeit.

Es gibt da auch einen enormen politischen Unterschied zwischen dem koreanischen und dem deutsch-deutschen Szenario auf der einen Seite und der Lage in der Ukraine auf der anderen Seite. Über die Sicherheitsgarantien für die beiden Koreas und die beiden Deutschlands entschieden die beteiligten Supermächte jeweils allein. Das ging schnell und relativ einfach. Schon an den Minsker Verhandlungen waren Deutschland und Frankreich im Hintergrund beteiligt, verpflichteten sich dabei aber zu nichts. Soll ein Deal „Land gegen Sicherheit“ mit der Ukraine zustande kommen, müssten daran nicht nur sämtliche Nato-Staaten, sondern auch sämtliche EU-Staaten zumindest indirekt beteiligt sein. Es ist nämlich wenig sinnvoll, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, ohne sie ökonomisch und finanziell so zu stabilisieren, dass sie imstande ist, einem hochgerüsteten atomar bewaffneten Russland Paroli zu bieten.

Damit das funktioniert, müsste die Ukraine so attraktiv für Investitionen werden, dass sie die meisten der sieben Millionen Flüchtlinge zurückholen und beschäftigen und ein Verteidigungsbudget schultern kann, das im Verhältnis zum BIP dem Israels entspricht. Ohne Geld aus Brüssel würde sonst nur ein Großteil des Steueraufkommens in der Verteidigung verschwinden – auf Kosten von Sozialausgaben, innerer Sicherheit, Renten, Bildung und Infrastruktur. Das ist ein Masterplan für noch mehr Auswanderung, aber nicht dafür, Flüchtlinge zurückzuholen und das Land wiederaufzubauen. Um in Brüssel aus dem Vollen schöpfen zu können, müsste die Ukraine EU-Vollmitglied werden – und zwar unmittelbar nach dem Zustandekommen eines solchen Deals „Land gegen Sicherheit“.

Das hätte einige unerwartete Nebenwirkungen, die das Ganze für europäische Wähler nicht unbedingt attraktiv erscheinen lassen. Erstens, wenn sich Trump durchsetzt und sich am Johnson-Konzept orientiert, dann bekommt die Ukraine zwar in Zukunft amerikanische Waffen, aber auf Kredit. Das wiederum bedeutet, dass diese Kredite nach einem EU-Beitritt der Ukraine vom EU-Haushalt abgestottert werden. Ich bin gespannt, was Emmanuel Macron – oder wer immer ihm nachfolgt – davon hält, die Ukraine mit amerikanischen Waffen aufzurüsten, für die die EU-Steuerzahler aufkommen. Zweitens: Der Beitritt der Ukraine würde die Machtverhältnisse im EU-Rat und EU-Parlament ordentlich durcheinanderwirbeln. Weshalb damit vermutlich nicht nur die üblichen Querulanten wie Ungarn und die Slowakei ein Problem hätten, sondern auch Länder, von denen man es vielleicht nicht erwartet, die aber durch den ukrainischen Beitritt von Netto-Empfängern zu Netto-Beitragszahlern werden: Polen, Rumänien und Griechenland zum Beispiel. Das sind, wie man aus vorherigen Erweiterungen weiß, alles lösbare Probleme. Sie werden in der Regel gelöst mit Geld und Änderungen der EU-Verträge. Aber die dauern viele Jahre lang – und so viel haben wir jetzt grade nicht.

Welchen Nutzen hat aber ein Deal für die Ukraine, wenn sie erst auf ihre Gebiete verzichtet und dann jahrelang darauf warten muss, in die Nato und die EU aufgenommen zu werden? Das wäre ein Verzicht auf Territorium für ein Versprechen von Sicherheit, von dem nicht klar ist, wann es eingelöst wird – eine Neuauflage des Budapester Memorandums, nachdem die Ukraine sofort ihre Atomwaffen abgegeben hatte, um dafür irgendwann einmal Sicherheit zu bekommen.

Und es wäre eine Einladung an Russland, während dieser Wartezeit noch weitere vollendete Tatsachen zu schaffen. Einen Sinn hätte das nur, wenn die Ukraine in dieser Übergangszeit zumindest de facto Nato-Mitglied würde, etwa, indem die Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich in der Ukraine größere Truppenkontingente mit schweren Waffen stationieren, die Russland davon abhalten, militärisch weiter Fakten zu schaffen. Ich weiß nicht, ob das der Hintergrund von Emmanuel Macrons jüngsten Vorstößen über westliche Truppenstationierungen in der Ukraine ist, aber in diesem Zusammenhang sind sie jedenfalls sinnvoll. Vor allem stellen sie eine Maßnahme dar, die man auch durchführen kann, ohne dass Russland an den Verhandlungstisch kommen muss.

Dazu gibt es für den Kreml im Moment wirklich keinen Grund. Statt zu verhandeln, genügt es jetzt, abzuwarten: bis Selenskyjs Truppen zusammenbrechen, bis Trump in den USA die Wahlen gewinnt, bis genügend prorussische Populisten in Europa an der Macht sind, um eine Nato- und EU-Aufnahme der Ukraine unmöglich zu machen. Außer, Nato und EU kehren den Spieß um und setzen zur Abwechslung den Kreml unter Zeitdruck. Auch dafür gibt es eine historische Analogie: den Nato-Doppelbeschluss. Er verband den Beschluss zur Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen mit einem Verhandlungsangebot über Abrüstung. Wollte die UdSSR die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa verhindern, musste sie sich vorher auf ein Abkommen über die Reduzierung ihrer eigenen Mittelstreckenraketen einlassen. Das funktionierte damals nicht – erst wurden die amerikanischen Raketen stationiert, dann gab es (nach dem Wechsel von Andropow zu Gorbatschow) erfolgreiche Verhandlungen über Abrüstung. Allerdings ging es damals auch nicht um Krieg oder Frieden, es gab keine Schlachtfelder und es starben nicht täglich Hunderte junger Leute in den Schützengräben.

Wenn aus den in den letzten Wochen durchs Internet und die Medien schwirrenden Debattenbeiträgen über eine Stationierung französischer Soldaten in der Ukraine, ein Korea- oder Deutschland-Szenario für die Ukraine und einen ukrainischen Nato-Beitritt ein Schuh werden soll, dann so: Die Nato verkündet einen weiteren Doppelbeschluss, demzufolge westliche Truppen in der Ukraine stationiert und die Ukraine in den Grenzen, die sie derzeit kontrolliert, in die Nato aufgenommen wird, falls es bis zu einem bestimmten Termin vor den Wahlen in den USA keinen Waffenstillstand und den Beginn von Friedensverhandlungen auf der Grundlage des jetzigen territorialen Status quo gibt.

Aber wer in Westeuropa würde sich auf so etwas ernsthaft einlassen, besonders, wenn nicht klar ist, ob und falls ja, wie lange die USA dabei mitmachen?

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