UKRAINE-KRIEG: GEHEIMDIENST DURCHKREUZT RUSSISCHE MORDPLäNE GEGEN SELENSKI

Zwei ranghohe Kollaborateure sollten offenbar Attentate gegen Entscheidungsträger in Kiew organisieren. Für die Ukraine stellt sich nun die Frage: Wie weit reicht Moskaus Einfluss?

Den Ukrainern ist zu Wochenbeginn laut eigenen Angaben ein bedeutender Schlag gegen ein russisches Netzwerk im Land gelungen. Wie der Inlandsgeheimdienst SBU am Dienstag meldete, durchkreuzte er weit fortgeschrittene Anschlagspläne gegen führende ukrainische Entscheidungsträger. Präsident Wolodimir Selenski hätte ebenso ermordet werden sollen wie SBU-Direktor Wasil Maljuk und Kirilo Budanow, Chef des Militärgeheimdienstes.

In einem zwölfminütigen Video legte der SBU seine Ermittlungsergebnisse detailliert dar: Demnach rekrutierte der russische Geheimdienst FSB mindestens zwei Offiziere der Behörde, die für den Schutz des Präsidenten und hoher Beamter zuständig ist. Die Männer im Rang eines Oberst wurden verhaftet.

Einer der Offiziere sollte unter den Bewachern Selenskis jemanden finden, der den Präsidenten entführen und ermorden würde. Ein anderer Agent nahm in einem mitgeschnittenen Telefongespräch Instruktionen des FSB zur Tötung von Budanow entgegen.

Ein „Sandwich“ mit Raketen und einer Drohne

Während die Anschlagspläne gegen Selenski vage klingen, hätte Budanow kurz vor dem orthodoxen Osterfest am vergangenen Sonntag umgebracht werden sollen – laut SBU-Direktor Maljuk „als Geschenk für Putin zu seiner Amtseinführung“. Einer der Oberste hatte einen von ihm angeworbenen Agenten dafür bereits mit einer sprengstoffbeladenen Drohne und einer Mine ausgerüstet. Die Waffen stellte der SBU bei einer Hausdurchsuchung sicher, nachdem er den Offizier über längere Zeit beobachtet hatte. Dieser ist geständig.

Aus dem Gesprächsmitschnitt geht hervor, dass der mutmaßliche russische FSB-Agent Dmitri Perlin den Aufenthaltsort von Budanow in Erfahrung gebracht hatte. Er instruierte seinen ukrainischen Agenten, das Haus zu beobachten und die Ankunft des Geheimdienstchefs sofort per SMS zu melden.

Die Russen würden dessen Einheit dann mit einer Rakete angreifen. Der Agent solle dies beobachten und mit einer Drohne die Überlebenden töten. Danach verwische eine weitere Rakete die Spuren. „Wir machen ein Sandwich: Rakete – ‚Vogel‛ – Rakete“, fasste Perlin den Plan zusammen, wobei „Vogel“ für „Drohne“ steht. Er versprach dem Mann mindestens 50.000 Dollar Belohnung.

Die extensive Informationspolitik ist sehr ungewöhnlich für den verschwiegenen SBU. Wenn auch die Authentizität der Aufnahmen schwer zu überprüfen ist, wirken die Anschuldigungen plausibel. Die Anschlagspläne sind bei weitem nicht die ersten, die bekanntwerden. Es ist zwar ein Erfolg für die Kiewer Spionageabwehr, die Pläne gestoppt zu haben. Aber der Vorgang lässt erahnen, wie weit Russlands Einfluss auch nach mehr als zwei Jahren Krieg reicht.

Dass Selenski und Budanow im Visier der Russen stehen, erstaunt nicht. Den Präsidenten hat Moskau erst vor wenigen Tagen zur Fahndung ausgeschrieben, den Geheimdienstchef offiziell als „Terroristen und Extremisten“ eingestuft. Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew meinte jüngst, Selenski werde „kaum bis ins hohe Alter leben“. Das klingt wie eine Drohung, obschon der Kreml offiziell betont, keine Mordpläne gegen den Ukrainer zu hegen.

Ein Dutzend Anschläge auf Selenski

Selenski selbst hat in einem Interview gesagt, er habe mindestens fünf Attentate überlebt, laut der Zeitung „The Independent“ sind es sogar mehr als ein Dutzend. „Das erste Mal war es sehr interessant“, erklärte der Präsident, „später ist es wie Covid.“ Man gewöhne sich daran. Erst Mitte April verhaftete die polnische Polizei einen Mann, der Selenski angeblich im Auftrag Russlands töten wollte.

Auch Budanow überlebte bereits mehrere Anschläge. Bei einem wurde er schwer verletzt. Außerdem vergifteten Unbekannte im vergangenen November seine Frau. Sie trug nur deshalb keine bleibenden Schäden davon, weil sie rasch medizinische Hilfe holte.

Die demonstrative Gelassenheit im Umgang mit solchen Mordanschlägen verweist darauf, dass sie inzwischen fast zum Alltag gehören. Als Mittel des Krieges nutzt sie auch der ukrainische Militärgeheimdienst, der mehrere Kollaborateure und Kreml-Propagandisten ermordete. Budanow vergleicht das Vorgehen gerne mit jenem des Mossad. Allerdings waren die von den Ukrainern Getöteten nie so prominent wie jene, auf die Moskau nun offenbar abzielte.

Im Hintergrund dürften die Pläne deshalb durchaus für Unruhe sorgen. Zwar deutet nichts auf eine „Säuberung“ innerhalb der für den Schutz des Präsidenten zuständigen Behörde hin, die russische Nachrichtenkanäle postulierten. Doch stellt sich für Kiew die Frage, wie es Moskau gelingen konnte, zwei hochrangige Offiziere in einer so wichtigen Behörde zu rekrutieren.

Dabei ist das Problem der Infiltrierung spätestens seit zehn Jahren bekannt: Damals setzten sich nach der Maidan-Revolution allein im SBU mehrere tausend Geheimdienstmitarbeiter nach Russland ab. Noch ein Jahrzehnt früher hatte die Ukraine mit der Vergiftung des späteren prowestlichen Präsidenten Wiktor Juschtschenko ein erstes Mal erlebt, wie gnadenlos Moskau all jene behandelt, die es in seinem Hinterhof als Feinde sieht.

Die Fehleinschätzungen des FSB

Die Ukraine unternimmt seit 2014 unter Mithilfe ihrer westlichen Alliierten große Anstrengungen, um die Geheimdienste von russischen Agenten zu säubern. Allerdings verstärkten auch die Russen, konkret die Fünfte Abteilung des FSB, ihre Anstrengungen zur Unterwanderung.

Laut Experten wie Christo Grosew von der Investigativplattform Bellingcat baute Moskau am Vorabend der Invasion unter anderem in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Zellen auf, um Selenski und die restliche Staatsführung rasch zu liquidieren. Sie scheiterten. Dass der FSB die Widerstandsbereitschaft des Kriegsgegners generell völlig unterschätzt hatte, schwächte ihn zumindest temporär zusätzlich.

Die Netzwerke der Russen sind aber nicht völlig kollabiert, ihre Reichweite einzuschätzen bleibt schwierig. So sagt der SBU, er habe seit Februar 2022 mehr als 2000 Personen ausfindig gemacht, die Verrat begangen hätten. Die Gruppe enthält allerdings einen breiten Personenkreis, vom professionellen Agenten bis zur Dorfbewohnerin, die gegen Geld die Position einer Armeestellung verrät.

Einer der nun verhafteten Oberste hat es laut eigenen Angaben seit 2014 geschafft, seine Arbeit für die Russen geheim zu halten. Die jüngsten Mordpläne könnten mit der generell zunehmenden Aktivität des FSB zusammenhängen, die auch verschiedene EU-Staaten besorgt vermerken. Oder es kann, wie eine Quelle in Kiew dem „Guardian“ nahelegte, auf die Eigeninitiative einiger mittlerer Kader im FSB zurückgehen, die damit Putin beeindrucken wollten – rechtzeitig zu seiner erneuten Amtseinführung.

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