WARUM PUTINS RUSSLAND WIE DIE SOWJETUNION üBER NACHT ZUSAMMENBRECHEN KöNNTE

„Wir sind ein geeintes und großes Volk. Gemeinsam werden wir alle Hindernisse überwinden, wir werden alle unsere Pläne verwirklichen, und gemeinsam werden wir siegen“, sprach Russlands Machthaber Wladimir Putin mit fester Stimme anlässlich seines Amtseides für eine weitere sechsjährige Amtszeit.

Die Herausforderung für den Westen bestehe darin, mit einem zunehmend autoritärer agierenden russischen Anführer – einem „modernen Zaren mit Atomwaffen“ – adäquat umzugehen, welcher seine eigene Vorstellung von Russlands Größe umsetzen möchte, fasst langjähriger BBC-Russland-Korrespondent Steve Rosenberg die Hauptherausforderung aus der Sicht des Westens treffend zusammen.

Doch im Gegensatz zu Putins erster, am 7. Mai 2000 erfolgten Angelobung, stimmt die mittlerweile fünfte Präsidentschaft Wladimir Putins keinesfalls hoffnungsfroh. Im dritten Jahr der russischen Invasion der Ukraine wird in den internationalen Medien sowie innerhalb der westlichen Expertengemeinschaft nicht selten die Meinung vertreten, dass Russland sich von den militärischen Misserfolgen und der ersten Schockstarre internationaler Sanktionen erholt habe, der Umstieg auf die Kriegswirtschaft weitgehend erfolgreich abgeschlossen wurde und Wladimir Putins Regime allen echten, wie eingebildeten Bedrohungen erfolgreich trotzen könnte. Damit sei Russland der militärische Sieg gegen die Ukraine nicht mehr zu nehmen und der Westen sollte statt auf weitere Eskalation der Kampfhandlungen auf zeitnahe eine diplomatische Lösung setzen, so die Forderung.

In seinem jüngsten Artikel für Foreign Affairs unter dem Titel „Putins brüchiges Regime“ widerspricht Maksim Samorukow, ein Mitarbeiter des Carnegie Russia Eurasia Center und geschäftsführender Herausgeber von Carnegie Politika, dieser Meinung und begründet auf eine präzise Weise, warum das stark personalisierte Machtsystem Wladimir Putins deutlich brüchiger sei, als es von außen den Eindruck erwecke. Solcherart lautet das Fazit Samorukows: Wie einst die Sowjetunion ist auch das heutige Russland für selbstzerstörerische Fehler anfällig geworden und könnte angetrieben von „Putins Launen und Wahnvorstellungen“ wie sein Vorgänger vor über drei Jahrzehnten unerwartet über Nacht zusammenbrechen.

Eingangs führt Samorukow die Feststellung des US-amerikanischen Historikers Stephen Kotkin an, dass der Westen den Zusammenbruch der Sowjetunion deshalb nicht vorhersehen konnte, weil das Land dem äußeren Anschein nach nicht kollabierte. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall gewesen, die Sowjetunion sei auch den Experten lange Zeit als ein relativ stabiler Staat erschienen. Schließlich habe es keine langfristigen Trends gegeben, die den Zusammenbruch der Sowjetunion unvermeidlich machen würden. Doch durch die Umsetzung einer ganzen Reihe von unbedachten Entscheidungen der höchsten sowjetischen Führungsriege durch ein obrigkeitshöriges System ohne kritische Gegenkontrollen sei es zu einem unerwarteten Zusammenbruch des Riesenreiches gekommen.

Nach Ansicht Samorukows ähnele Putins Situation in gewisser Weise derjenigen, mit der sich der sowjetische Anführer Michail Gorbatschow in den letzten Jahren der Sowjetunion konfrontiert gesehen habe. So habe Gorbatschow in den späten 1980er Jahren den konservativen Beamtenapparat angewiesen, die politische und wirtschaftliche Liberalisierung ohne Rücksicht auf strukturelle Voraussetzung in Eiltempo voranzutreiben. Und die wenig durchdachten Reformen haben die Voraussetzungen für den Systemkollaps geschaffen. Denn Ende 1989 sei Gorbatschow vom Ausmaß der fundamentalen Veränderungen, die seine Politik in Gang gesetzt hatte, überwältigt gewesen und habe versucht, die Reformen abzubrechen, den Staatsapparat dabei ohne eine kohärente strategische Vision sich selbst überlassend. Mangels klarer Führung habe das sowjetische System eine Zeit lang vor sich hingedümpelt, bis es schließlich zusammengebrochen sei.

Zwar verfüge Putin keinesfalls über Gorbatschows idealistischen Humanismus, jedoch über dessen Fähigkeit, dem russischen Staat seine persönliche Vision aufzuzwingen, so Samorukow. Im Gegensatz zu Michail Gorbatschow habe Putin Russland nicht auf reformerische Bahnen gelenkt, sondern in einen brutalen Krieg gegen die Ukraine geführt. Heute wende die russische Staatsbürokratie unbedacht begrenzte Ressourcen auf, um die Wünsche des Präsidenten zu erfüllen, und nicht selten diese vorwegzunehmen.

Die ersten Folgen dieser Politik seien bereits sichtbar. Putins Krieg habe die jahrelangen Prioritäten der russischen Sicherheitsdienste bei der Bekämpfung des islamistischen Extremismus in Richtung fiktiver Bedrohungen von Seiten der russischen Opposition, der Ukraine sowie des Westens verschoben und den Terroranschlag im Konzertsaal Crocus City Hall in der Region Moskau erst möglich gemacht. Vergleichbar destruktive Entwicklungen liegen im Finanz- und Wirtschaftssektor vor. Die Bemühungen der russischen Zentralbank, die Inflation durch hohe Zinssätze einzudämmen, koexistieren auf wunderliche Weise mit staatlich subventionierten Krediten, welche die Binnennachfrage und damit auch die Inflation in die Höhe treiben. Schließlich führe Putins Wunsch nach schnellem Umstieg auf Kriegswirtschaft dazu, dass für die Wirtschaftsentwicklungen zuständigen russischen Behörden und Organisationen aufgehört haben, sich untereinander abzustimmen. Stattdessen konzentrieren sie sich darauf, Zahlen zu liefern, die Putins Gefallen finden, so Samorukow. Zu Recht weist Samorukow darauf hin, dass Russlands Wirtschaftspolitiker die Wirtschaft des Landes inmitten beispielloser internationaler Sanktionen stabilisiert haben. Die Willkür des Kremls gefährde aber diese brüchige Stabilität.

Wie die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre stehe auch das heutige Russland vor einem ähnlichen Problem. Wladimir Putin habe einen Krieg begonnen, ohne dabei dem Staatsapparat jedoch eine strategische Vision zu geben und diesem zu erklären, wie die neue Realität zu handhaben sei. In Ermangelung klarer politischer Vorgaben verfalle das System entweder in eine Schockstarre oder beginne, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, nicht selten mit katastrophalen Folgen, so Samorukow. Prigoschins kurzlebige Meuterei sei ein markantes Beispiel für die Folgen von Putins Unentschlossenheit und Führungsversagen.

Umgeben von Ja-Sagern und frei von jedwedem negativen Feedback und objektiven Rat beeinflussen Putins zunehmender Tunnelblick, verworrene Prioritäten und emotionale Ausbrüche seine Entscheidungen. Darunter leiden die Außenpolitik, die innere Sicherheit und die wirtschaftliche Situation Russlands, zeigt sich Samorukow überzeugt. Darüber hinaus wirke sich das zunehmende Bewusstsein seiner eigenen Sterblichkeit auf Putins Entscheidungsfindung aus. Denn schließlich sei Putin länger an der Macht als jeder andere russische Machthaber seit Stalin. Und mit 71 Jahren nähere sich Putin dem Lebensrubikon, an dem die meisten seiner Amtsvorgänger aus dem 20. Jahrhundert starben. Das Bewusstsein seiner eigenen Sterblichkeit wirke sich mit Sicherheit auf seine Entscheidungsfindung aus. So beispielsweise bei der Entscheidung, die Ukraine im Februar 2022 zu überfallen, so Samorukow.

Die Fügsamkeit der Eliten, die riesigen Finanzreserven, wachsende Öleinnahmen sowie die Geschicklichkeit des Staates bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung lassen Putin unbesiegbar erscheinen. Sein System breche nicht zusammen, genauso wie die späte Sowjetunion nicht zusammenzubrechen schien. Ein Staatskollaps könne sich über Jahre hinziehen oder innerhalb weniger Wochen eintreten. Der Westen sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die Ereignisse in Russland jederzeit der Kontrolle des Kremls entgleiten und den raschen Untergang seines scheinbar unvergänglichen Regimes auslösen können, schließt Samorukow seine lesenswerten Überlegungen ab.

Auch wenn die Thesen Maxim Samorukows überaus denkanregend und in vielem zutreffend erscheinen, gilt es dennoch eines zu bedenken: Auf den Zusammenbruch des russischen Regimes zu setzen, ist absolut vermessen. Dieser könnte doch Jahre dauern und möglicherweise gar nicht eintreten. Doch solange Wladimir Putin an der Macht bleibt, ist ein wie auch immer geartetes Kriegsende kaum zu erwarten. Denn Putin ist und bleibt nach wie vor zumindest von einem Teilerfolg seines Kriegszuges überzeugt und hält Waffenstillstand sowie ergebnisoffene Friedensverhandlungen für nicht zielführend, ja tatsächlich viel zu risikoreich.

Russland mit Wladimir Putin an seiner Spitze betrachtet den Krieg gegen die Ukraine als einen komplexen politischen Prozess – als einen „hybriden Krieg“ gegen den gesamten Westen – und greift aus diesem Grund neben rein militärischen auch zu unterschiedlichen politischen und diplomatischen Maßnahmen.

Damit setzt Moskau auf gezieltes propagandistisches Störfeuer gegen den Westen, um die Interessenskonflikte innerhalb des westlichen Bündnisses sowie die Gesellschaftskonflikte im Westen zu befeuern, tiefe Ängste vor einer atomaren Eskalation zu schüren und eine breit angelegte Desinformationskampagne zu intensivieren. In der Ukraine gelangen hingegen gezielte Terrormaßnahmen gegen die ukrainische Bevölkerung zum Einsatz, mit dem Ziel, Unruhe zu stiften. Durch gezielte Zerstörung kritischer ziviler Infrastruktur und wesentlicher Wirtschaftsgrundlagen der Ukraine sollen die ukrainischen Eliten in die Verhandlungen und letztlich zur Aufgabe sowie zum Diktatfrieden gezwungen werden.

Durch diese Maßnahmen versucht der Kreml gegenüber der Ukraine und auch gegenüber dem Westen den längeren Atem zu behalten. Gerade die Vorstellung, dass Russland diesen Krieg – aus heutiger Sicht – nicht zwingend verlieren muss und sich dessen auch bewusst ist, macht die Lage sehr gefährlich.

Vor diesem Hintergrund kommt einer entschiedenen militärischen Unterstützung der Ukraine eine fundamentale Bedeutung zu. Denn die einzige realistische Chance auf einen nachhaltigen (und nicht nur durch das Einfrieren des Konfliktes vorübergehenden) Frieden würde sich nur im Falle eines klaren militärischen Erfolges der Ukraine eröffnen. Denn bevor Russland auch nur in die Nähe entscheidender militärischer Niederlagen kommt, wird sich die Verhandlungsbereitschaft des Kremls und auch Wladimir Putins auf eine wundersame Weise einstellen.

Freilich erscheinen derartige Überlegungen angesichts der dramatischen Frontlage rein theoretischer Natur zu sein. Ob es auch so bleibt, hat letztlich der Westen zu entscheiden.

2024-05-08T15:03:43Z dg43tfdfdgfd