„ANKüNFTE VERFüNFFACHT“ – DER NEUE HOTSPOT DER MIGRATIONSKRISE

Die Zahl der illegalen Migranten auf den spanischen Kanareninseln schießt in die Höhe. Im laufenden Jahr kommen bisher über diese einst marginale Route fast so viele Menschen nach Europa wie über die beiden langjährigen Hauptwege. Dabei ist die Route vor Nordwestafrika äußerst gefährlich.

Der Alarm ging in der Nacht auf Montag im kleinen Container der staatlichen Seenotretter im Hafen der Kanareninsel El Hierro ein: halb gesunkenes Boot, ein paar Menschen, die auf Deck ausharren, 60 Seemeilen entfernt. Ein Containerschiff hatte das Holzboot zufällig entdeckt. Mit seinen Kollegen des Salvamento Marítimo stürmte Diego Cruz, der seinen wahren Namen nicht der Öffentlichkeit preisgeben möchte, zu seinem Boot und machte sich auf den Weg gen Süden.

Zugleich stieg ein Helikopter auf, er war schnell vor Ort: Neun Menschen konnten lebend geborgen werden. Zwei Tage lang seien sie im Meer getrieben, berichteten sie, mit ursprünglich 60 Männern und Frauen an Bord aufgebrochen, als das Boot langsam zu sinken begann. „Es wird immer schlimmer“, sagt Cruz, der nach drei Stunden Fahrt mit seinen Leuten das Gebiet um den Fundort untersucht hat: „Da war nichts mehr zu tun, wir fanden nichts mehr.“

Die wegen ihrer großen Distanz und den Tücken des Atlantiks äußerst gefährliche Route von Nordwestafrika auf die spanischen Kanareninseln gewinnt zunehmend an Bedeutung. Laut einem WELT AM SONNTAG vorliegenden vertraulichen Bericht der EU-Kommission zu den „Feststellungen illegaler Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen“ haben sich „die Ankünfte via Atlantik-Route auf den Kanarischen Inseln 2024 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verfünffacht“. Bis zum Stichtag 22. April wurden dort 15.909 Migranten festgestellt – 421 Prozent mehr als im selben Zeitraum 2023.

Im laufenden Jahr kamen über diese einst marginale Route fast so viele Menschen nach Europa wie über die beiden langjährigen Hauptrouten: Auf der zentralen Mittelmeer-Route aus Nordafrika nach Italien wurden bislang 15.948 Ankünfte verzeichnet, auf der östlichen Mittelmeer-Route aus der Türkei 16.452. Unter dieser Route werden die Anlandungen auf den griechischen Ägäisinseln, die Feststellungen an den griechischen und bulgarischen Landgrenzen aus der Türkei sowie die Ankünfte im EU-Mitgliedstaat Zypern zusammengefasst. Die Kommissionszahlen konstatieren bis zum Stichtag auf der Ostroute einen Anstieg um 109 Prozent und auf der Zentralroute einen Rückgang um 58 Prozent.

Die größte Gruppe der auf den Kanaren Ankommenden sind Malier (44 Prozent), darauf folgen Senegalesen (15 Prozent), Menschen unbekannter Nationalität (15 Prozent), Mauretanier (zehn Prozent) und Marokkaner (acht Prozent). Dem EU-Bericht zufolge bedarf es einer „intensiven Beobachtung“, dass laut Mitteilung Spaniens die Ankünfte aus dem Senegal zunehmen, weil die „Schmuggler größere Boote“ nutzten. Es verschlechtere sich überdies die Sicherheitslage in Mali, vom 12. bis 15. April habe es bewaffnete Operationen gegeben, und am 16. April seien mehr als 110 Zivilisten im Zentrum des Staates von mutmaßlichen Dschihadisten entführt worden. Die Lage könne „zu mehr Vertreibungen führen, insbesondere nach Mauretanien“.

Tatsächlich hatten die Seenotretter auf El Hierro viele ruhige Jahre, nie stand die Miniinsel im Fokus der Migrationskrise. Das änderte sich vor einem Jahr. „Bis zum 1. Juni kam 2023 nur ein Boot nach El Hierro“, erzählt Seenotretter Cruz: „In diesem Jahr sind es bis Ende April schon 8000 Menschen.“ Die meisten Boote seien den Insassen zufolge in Mauretanien losgefahren, berichtet er, „und die Migranten sagen uns, dass extrem viele Menschen darauf warten, in die Boote zu steigen“. Für 2024 erwartet Cruz einen neuen Rekord, zumal das Meer erst ab Herbst ruhiger werde und dann die meisten Bootsmigranten losführen.

In Deutschland kommt jeder Zweite ohne Registrierung an

Für Alexander Throm, den innenpolitischen Sprecher der Union im Bundestag, muss die lebensgefährliche Route „so schnell es geht geschlossen oder wenigstens erheblich eingedämmt werden“. Mit intensiver EU-Unterstützung könne „auf den Kanaren demonstriert werden, dass zügige Verfahren und Rückführungen machbar sind, wie es die jüngst beschlossene EU-Asylreform an allen Außengrenzen vorsieht“, so der CDU-Politiker. „Die Bürger Europas warten darauf, dass endlich ein nennenswerter Teil der nicht schutzberechtigten Asylsuchenden von den Außengrenzstaaten abgeschoben werden kann, wie es eigentlich schon das bisherige Migrationsrecht vorgibt und durch die EU-Asylreform beabsichtigt ist.“

Insgesamt haben die nationalen Grenzpolizeien sowie die EU-Grenzschutzagentur Frontex im laufenden Jahr laut EU-Papier rund 59.600 illegale Grenzübertritte in die EU festgestellt, 20 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Zahlen sind freilich nur eine Annäherung an die Wirklichkeit, denn nicht alle Migranten werden an den langen Land- und Seegrenzen der EU bei der Einreise registriert. In Deutschland kommt etwa jeder zweite Asylbewerber ohne Registrierung durch einen anderen EU-Staat an.

Regelmäßig klafft eine riesige Lücke zwischen den Feststellungen unerlaubter Einreisen in die EU und der Zahl der Asylanträge. So wurden 2024 laut Kommissionsbericht allein in Deutschland bisher rund 75.000 Asylerstanträge gestellt, in der gesamten EU etwa 300.000. Bei Letzteren ist zu berücksichtigen, dass darunter viele Migranten sind, die zunächst etwa in Spanien, Italien oder Griechenland Anträge stellen und nach ihrer Weiterreise erneut in Deutschland.

Alle EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, jeden nach der illegalen Einreise aufgegriffenen Migranten in der zentralen Datenbank Eurodac zu speichern – nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch, damit die meist früher oder später in ihre Wunschstaaten weiterreisenden Asylsuchenden wieder in die für sie zuständigen Staaten zurückgebracht werden können. Dies gelingt bekanntermaßen kaum, soll aber durch die EU-Asylreform erleichtert werden.

Das Bundesinnenministerium teilte WELT AM SONNTAG mit, dass ein „vereinfachtes Notifizierungsverfahren eingeführt“ wird, das Rücküberstellungen von Mehrfachasylbewerbern beschleunigen soll. Auch sollen dann die „Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten weniger schnell übergehen und Überstellungen länger möglich“ sein. Bis dahin kann es noch einige Zeit dauern. Ein Ministeriumssprecher erklärte: „Vorgesehen ist, dass die neuen Regelungen 20 Tage nach Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten und zwei Jahre nach Inkrafttreten Anwendung finden.“

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