„DAS BEDROHLICHSTE FüR KIM JONG-UN SIND NICHT US-ATOMRAKETEN, SONDERN POPBANDS AUS SüDKOREA“

Auf der koreanischen Halbinsel kommt es vermehrt zu Spannungen. Victor Cha ist einer der besten Kenner des Konflikts und war Top-Berater des damaligen US-Präsidenten Bush. Er erklärt, was Nordkorea von der DDR unterscheidet und in welchem Fall Seoul die Atombombe brauchen könnte.

Die Beziehungen zwischen Süd- und Nordkorea befinden sich auf einem historischen Tiefstand. Seoul wirft dem Nachbarstaat vor, im Austausch für Unterstützung bei der Entwicklung von Spionagesatelliten Waffen an Russland zu liefern. Die selbst ernannte Atommacht Nordkorea testete zuletzt verstärkt atomwaffenfähige Raketen und baut nach eigenen Angaben ihre nukleare Schlagkraft aus. Machthaber Kim Jong-un vermeldete Anfang der Woche die Simulation eines „schnellen nuklearen Gegenangriff“, der als „klares Warnsignal“ an seine Feinde gewertet werden solle.

Kein Nordkorea-Spezialist verbindet Theorie und Praxis wie Victor Cha. Er war von 2004 bis 2007 der Top-Berater von US-Präsident George W. Bush und spielte eine zentrale Rolle in den damaligen „Sechsergesprächen“, mit denen Nordkorea vom Bau der Atombombe abgehalten werden sollte. Seit mehr als 20 Jahren lehrt Cha an amerikanischen Elite-Universitäten, aktuell an der Georgetown University. Jüngst veröffentliche er mit „Korea: A New History of North and South“ das aktuell erfolgreichste und spannendste Buch, um sich über Geschichte und Gegenwart des Korea-Konflikts zu informieren.

WELT: Die Berliner Mauer stand 28 Jahre, Koreas Teilung währt nun über 70 Jahre. Gibt es einen Zeitpunkt, an dem die Trennung unumkehrbar wird?

Victor Cha: Koreaner ab 60 äußern sich in Umfragen sehr positiv zur Wiedervereinigung. Die Jüngeren kennen den Korea-Krieg und die Teilung nur aus den Geschichtsbüchern. Sie sind wohlhabend, gebildet, sprechen mehrere Sprachen und denken nicht einmal an Nordkorea. Und wenn sie es doch tun, geht es ihnen nicht um ethnische Einheit, sondern vor allem um die Kosten. Sie sagen: Ich habe jetzt schon genug Probleme, einen Job zu finden. Wird es dann noch schwieriger?

WELT: Wie sehen es die Nordkoreaner?

Cha: Die sind deutlich offener für eine Wiedervereinigung. Das Bedrohlichste für das Regime in Pjöngjang sind nicht US-Atomraketen, sondern BTS und Blackpink. Die Nordkoreaner lieben diese globalen Superstart-Popbands aus Südkorea. Sie versuchen bei jeder Gelegenheit, diese Musik zu hören und Videos der Bands zu sehen. Es ist komplett verboten, aber sie riskieren schwere Strafen. Kürzlich wurden zwei nordkoreanische Teenager öffentlich vor Hunderten Kindern zu zwölf Jahren harter Zwangsarbeit in einem Lager verurteilt. Weil sie angeblich südkoreanische Fernsehserien geschaut hatten.

WELT: Die DDR und die Sowjetunion sind zusammengebrochen, weil die Menschen wussten, dass es noch etwas anderes jenseits der Grenzen gibt ...

Cha: Die Nordkoreaner wissen auch, dass es eine Welt da draußen gibt. Ungefähr 70 oder 80 Prozent von ihnen geben in anonymen Umfragen zu, ausländische Radiosender zu hören. Es werden USB-Sticks mit südkoreanischen Filmen und Musik geschmuggelt. Aber es gibt einen großen Unterschied zur DDR. Deren Bürger konnten über andere Länder flüchten. China und Russland aber schicken jeden Flüchtling zurück. Würde China das nicht tun, es wäre Nordkoreas Ende.

WELT: Welches Interesse hat China dabei?

Cha: Peking will kein wiedervereinigtes Korea. Sonst gäbe es einen militärischen Verbündeten der USA direkt an seiner Grenze. China will Nordkorea als Pufferstaat und wird deshalb Pjöngjang nie genug geben, um zu gedeihen. Aber es wird dem Regime auch nie so viel vorenthalten, dass es zusammenbricht.

WELT: Nordkorea ist inzwischen weltweit die am längsten bestehende Diktatur. Nur wegen China?

Cha: Auch wegen China. Nordkorea hat alle Atomwaffenanlagen direkt an der Grenze zu China platziert. Sie wissen, dass jeder Angriff auf sein Nuklearprogramm automatisch chinesische Interessen berührt. Hinzu kommt aber die Überzeugung, dass jede wirtschaftliche Öffnung langfristig zum Zusammenbruch einer Diktatur führen wird. Aufgrund dieser Doktrin vermeidet Pjöngjang jegliche Form von marktwirtschaftlichen Reformen. Sie lassen ihre Bevölkerung lieber leiden.

WELT: Welche Länder hat Nordkorea als abschreckendes Beispiel vor Augen?

Cha: Die Sowjetunion natürlich. Oder Rumänien und Libyen, wo die Diktatoren am Ende von der eigenen Bevölkerung gelyncht wurden. Solange die Kim-Familie das Land regiert, werden sie niemals eine Öffnung zulassen.

WELT: Wird es die Kim-Dynastie im Jahr 2050 oder im Jahr 2100 noch geben?

Cha: Wenn wir uns morgen treffen, und über Nacht hätte jemand Kim Jong-un in den Kopf geschossen und das nordkoreanische Regime kollabiert, würde mich das nicht überraschen. Wenn wir uns in 20 Jahren treffen, und die Dinge sind genau wie heute, wäre ich auch nicht überrascht. So unberechenbar ist die Situation.

WELT: Korea ist geteilt in eines der reichsten und eines der ärmsten Länder der Welt. Um das Jahr 1960 herum hatte Südkorea eine Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung auf dem Niveau von Ghana. Heute ist das Land zwölfmal reicher als Ghana, das für afrikanische Verhältnisse ein relativ stabiles und wohlhabendes Land ist. Was ist Südkoreas Geheimnis?

Cha: Ich möchte nicht klischeehaft sein, aber es liegt sicherlich auch an der Arbeitsmoral. Ich glaube, das Wichtigste war die Aussöhnung mit Japan Mitte der 1960er-Jahre. Die Normalisierung der Beziehungen führte dazu, dass die Schiffbau- und Stahlindustrie in Südkorea entstand. Und natürlich gab es viel Hilfe von den USA. Aber letzten Endes denke ich, dass es die Menschen sind. Als ich US-Diplomat war, kehrte ich 2007 von einem dreitägigen Trip aus Nordkorea zurück. Auf der Fahrt von Pjöngjang zur Grenze habe ich keinen Traktor gesehen, nur Ochsen, die Pflüge zogen. Dann kam ich nach Südkorea, und plötzlich steht dort eine riesige Samsung-Fabrik und die Skyline von Seoul glänzt. Aber die Menschen sind dieselben, sie sprechen dieselbe Sprache. Nur die Politik unterscheidet sich, genau, wie es in Ost- und Westdeutschland war.

WELT: Wobei Sie Südkorea in ihrem Buch nicht mit Deutschland, sondern mit Polen vergleichen.

Cha: Ja, das liegt auf der Hand. Beim Thema Wiedervereinigung ist der Bezugspunkt der Südkoreaner natürlich Deutschland. Was ihre Bedrohungslage angeht, denken sie aber an Polen. Korea hat den Fluch und den Vorteil, dass es sich im Zentrum der strategischen Interessen der großen Mächte Ostasiens befindet: Japan, China, Russland und die Vereinigten Staaten. Polen war ebenfalls Opfer des Kräftegleichgewichts zwischen den Großmächten in Europa.

WELT: Drei Atommächte als Nachbarn – und die nukleare Schutzmacht wird womöglich bald wieder von Donald Trump regiert. In Südkorea gibt es eine öffentliche Debatte, ob man selbst Atommacht werden sollte. Ist das realistisch?

Cha: Niemand hätte gedacht, dass es in Europa einen solchen Krieg wie in der Ukraine geben könnte. Deshalb denken die Menschen in Asien: Wenn dort die schlimmsten Dinge passieren, können sie auch hier geschehen. Joe Biden hat Südkorea und Japan mit der „Washingtoner Erklärung“ enger in den nuklearen Schutzschirm der USA eingebunden. Das ist aktuell ausreichend. Aber wenn Trump, wie angedroht, die 27.500 US-Soldaten aus Südkorea abzieht, kann das die Lage ändern.

WELT: Deutschlands Lage ist nicht unähnlich. Bräuchte dann konsequenterweise nicht auch die Bundesrepublik die Bombe?

Cha: Der Unterschied ist die Nato. Südkorea hat keine Nato, nur die Vereinigten Staaten. Wenn Südkorea unter Trump also eine reale Angst bekommt, von den USA verlassen zu werden, ist tatsächlich alles möglich. Aber die meisten Südkoreaner, die etwas von Außenpolitik verstehen, sind gegen die atomare Bewaffnung. Warum sollte Südkorea wie Nordkorea werden?

WELT: Es wäre doch gar nicht wie Nordkorea. Es wäre ein Atomstaat, aber kein diktatorischer Schurkenstaat ...

Cha: Also wie Indien oder Israel.

WELT: Ja, wie Israel. Es würde die Bombe brauchen, um seine Existenz als freier und demokratischer Staat zu sichern.

Cha: Nordkorea ist das einzige Land, das den Atomwaffensperrvertrag (NPT) verlassen und ein Atomwaffenprogramm aufgebaut hat. Pakistan, Indien und Israel hatten den NPT nicht ratifiziert. Südkorea hat nicht nur den Vertrag ratifiziert, sondern sogar in den Obama-Jahren eine wichtige Konferenz zur atomaren Nichtverbreitung veranstaltet. Wenn Seoul nun aus dem Sperrvertrag aussteigt und die Bombe baut, wäre das ein großer Einschnitt in der Geschichte des Landes.

WELT: Der zum Einschnitt passen würde, den Donald Trump bedeutet ...

Cha: Ja, wenn es zu einem nuklearen Südkorea kommt, dann ist das alles Trumps Werk.

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