MISSBRAUCH AN DER UNIKLINIK TüBINGEN: »ICH KAM MIR WIE GELäHMT VOR«

Über viele Monate hat ein Arzt der Tübinger Psychiatrie ein Verhältnis mit seiner Patientin. Nun ist er wegen Missbrauchs verurteilt worden. Der Richter spricht von einer »toxischen Verbindung«.

Keine drei Meter sind sie voneinander entfernt. Eine Nähe, die nicht einfach auszuhalten ist, das ist ihnen anzusehen. In einem Saal des Tübinger Amtsgerichts sitzen die Psychiatriepatientin und ihr ehemaliger Therapeut, zwischen ihnen hat ein Zeugenbegleiter vom Weißen Ring Platz genommen. Der Mann schirmt die 35-Jährige während ihrer Aussage am 9. April ab, rutscht mit seinem Stuhl hin und her, damit sich die Blicke nicht begegnen können.

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Ein schwieriger Prozessauftakt für das Opfer. Und ein schwieriges Ende, nun zweieinhalb Wochen später. Als ob sie verschwinden wolle, vergräbt die Patientin in den letzten Minuten der Verhandlung ihren Kopf in den Händen. Sie scheint Richter Benjamin Kehrer nicht mehr wahrzunehmen, als er das Urteil des Schöffengerichts begründet: Zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe für den 61 Jahre alten Arzt. Der Helfer, davon ist das Gericht überzeugt, ist zum Täter geworden.

Er hat die Patientin in 53 Fällen sexuell missbraucht und dabei das Behandlungs- und Betreuungsverhältnis ausgenutzt. Dass Sex in einer Psychotherapie verboten ist, regelt Paragraf 174c des Strafgesetzbuches. Auch die Ethikrichtlinien der psychotherapeutischen Berufsverbände schließen intime Kontakte aus – selbst, wenn sie einvernehmlich sind.

Es habe eine »intime Beziehung« bestanden, gibt der Arzt an diesem Freitag zu. »Ich habe versucht, ihr zu helfen, nicht als Therapeut, aber mit meiner Liebe.« Niemals sei Gewalt im Spiel gewesen oder etwas gegen den Willen der Frau geschehen. Dass er sich darauf eingelassen habe, tue ihm leid. Er befinde sich mittlerweile selbst in Behandlung, um aufzuarbeiten, wie es so weit kommen konnte.

In der Tübinger Psychiatrie lernten sich Arzt und Patientin kennen

Kennengelernt haben sich die beiden im Juli 2020 in der Tübinger Psychiatrie. Sie wurde als Patientin stationär behandelt, ihre Diagnose: eine schwere Persönlichkeitsstörung. Er machte seine Facharztausbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten. Er wurde ihr Arzt, bot ihr eine Einzeltherapie nach der Entlassung an.

»Ich hatte mich gefreut, ich mochte ihn«, erinnert sich die 35-Jährige, die als Nebenklägerin an dem Prozess teilnimmt. Sie spricht vor Gericht mit leiser Stimme, setzt ihre Worte vorsichtig, wie Wattetupfer auf eine Wunde. Er habe gesagt, sie müsse sich keine Gedanken machen um die Finanzierung, er benötige viele Ausbildungsstunden. Nur eines war ihr seltsam vorgekommen. »Er rief mich auf dem Handy an, dabei hatte ich ihm meine Nummer nie gegeben.« Er müsse sie sich wohl aus den Akten besorgt haben.

Erst hätten sich die beiden in der Klinik zu langen Gesprächen getroffen, schildert die Patientin. Später zu Spaziergängen, dann im Oktober 2020 bei ihm Zuhause, wo geschehen sein soll, was sie nicht wollte. Der Abend begann mit Champagner auf dem Sofa. »Ich kam mir wie gelähmt vor«, sagt die 35-Jährige. Sie wehrte sich nicht, als der Arzt ihr näherkam und sie ins Schlafzimmer zog. Die Staatsanwaltschaft wertete das anfangs als Vergewaltigung.

Die beiden trafen sich über viele Monate regelmäßig. Es habe sexuelle Kontakte gegeben, in der Wohnung des Arztes, im Therapiezimmer in der Klinik. Im März 2021 wurde die Patientin, die bereits drei Kinder und belastende Sorgerechtsstreitigkeiten hat, schwanger. Sie entschied sich für eine Abtreibung. Bald darauf trennte er sich.

Niemals hätte sie die Beziehung beenden können, sagt die Patientin rückblickend. »Ich wollte ihn auf keinen Fall als Therapeuten verlieren.« Zudem habe er ihr ein, zwei Jahre intensive Therapie und ein günstiges Gutachten für das Familiengericht in Aussicht gestellt, sodass sie womöglich ihre Tochter zurückbekommen hätte.

Bis ins Detail sind die Intimitäten zwischen Therapeut und Patientin dokumentiert. Es liegen E-Mails, SMS und WhatsApp-Nachrichten vor, aus denen hervorgeht, wie die anfängliche Distanz schnell schwindet. Einige der Mails werden vor Gericht vorgelesen.

Sex im Behandlungszimmer der Klinik

In der Tübinger Psychiatrie will keiner etwas von dem Sex im Arztzimmer, von der ungleichen Beziehung mitbekommen haben. Erst danach habe er davon erfahren, sagt der Ärztliche Direktor Andreas Fallgatter, er spricht von »Entsetzen«. »Es ist völlig unsäglich, wenn eine psychotherapeutische Beziehung in eine sexuelle übergeht.« Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass so etwas passieren könne. Er habe die Rechtsabteilung informiert, die Personalabteilung, den Ärztlichen Direktor der Universitätsklinik.

Der Beschuldigte musste seine Ausbildung zum Facharzt abbrechen und arbeitete seither als Wissenschaftler an der Uniklinik weiter. Sein Bereich: Demenzforschung. Der Patientin wurde eine Weiterbehandlung in der Psychiatrie untersagt. Sie habe deutlich gemacht, dass sie erwäge, die Klinik zu verklagen, sagt Fallgatter. »Wir hatten 18 Vorbehandlungen ohne großen Behandlungserfolg, warum sollte das besser werden, wenn es überschattet wird durch Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs?«

Ob die Therapie noch andauerte, als das sexuelle Verhältnis begann, ist eine der zentralen Fragen des Prozesses. Die Verteidigung argumentiert, das Verhältnis habe erst nach der Therapie begonnen – und sei somit nicht strafbar.

Die Landeskammern der Psychotherapeuten sehen das strenger, sie regeln die sogenannte Abstinenz in ihren Berufsordnungen. Die Zeit, in der ein sexuelles Verhältnis zwischen Therapeut und Patient verboten ist, variiert. In Baden-Württemberg wurde mindestens ein Jahr Abstand zum Ende der Therapie festgelegt, in der Hamburger Berufsordnung wird etwas vage ein »angemessener Zeitraum« genannt.

Zur Behandlung gibt es keine Dokumentation

Eine Oberärztin an der Tübinger Psychiatrie, die die Patientin ab 2014 behandelt hat, sagt, sie habe die Frau immer wieder vor dem Arztzimmer sitzen sehen. »Ich bin davon ausgegangen, dass die Behandlung fortgesetzt wurde.« Allerdings gab es laut Klinik keine offizielle Dokumentation der Therapie. Darauf angesprochen, habe der beschuldigte Arzt gesagt, er sei vor lauter Arbeit nicht dazu gekommen. Allerdings hätten von ihm verschickte Dokumente und Schreiben darauf hingewiesen, »dass beides parallel bestanden haben muss«.

Zweifel hatte die Oberärztin bezüglich dessen, was sie der psychisch instabilen Patientin glauben konnte. »Ich war vorsichtig mit dem, was sie gesagt hat, weil ich nicht wusste, was der Wahrheit entsprach.« Die Ärztin kannte eine Vorgeschichte, die alles noch komplizierter machte. Schon einmal hatte die Patientin eine innige Beziehung zu einem wesentlich älteren und verheirateten Psychotherapeuten. Als die Beziehung auseinanderging, zeigte sie ihn wegen Vergewaltigung an, um den Vorwurf später zu widerrufen. Als der Mann an Krebs erkrankte und starb, wurde das Verfahren eingestellt.

Die Witwe des Verstorbenen, selbst Psychologin, dementiert als Zeugin vor Gericht, dass es zu sexuellen Handlungen zwischen den beiden gekommen sei. Ihr Mann habe die Patientin »retten« wollen, sie durfte ins Gästezimmer ziehen. Später habe er ihr eine Wohnung besorgt, sie sogar mit in den Urlaub genommen. Über die Jahre unterstützte er sie mit mindestens 250.000 Euro. Ein mehrfaches Fehlverhalten. »Sie war Patientin, das ist ein lebenslanger Status«, sagt die Witwe. »Alles, was mein Mann getan hat, hat er entgegen seiner beruflichen Abstinenzverpflichtung getan.«

Gutachterin spricht von »fantastischen Geschichten«

»Jede sexuelle Handlung während einer Psychotherapie ist Missbrauch«, sagt Christian Laue, Anwalt der Patientin. Die strukturelle Abhängigkeit sei enorm. Oft werde versucht, die Glaubwürdigkeit infrage zu stellen. Doch dieser Fall sei besonders »monströs und komplex«, der Arzt habe »seine Triebe hemmungslos ausgelebt« und das in einem geschützten Raum wie dem Behandlungszimmer. Zudem habe die Uniklinik erheblichen Druck auf die Patientin ausgeübt, den Arzt nicht anzuzeigen. Ein Vorwurf, den Klinikchef Fallgatter dementiert.

Ob die Patientin die Wahrheit sagt, soll Gutachterin Ursula Gasch beurteilen. »Viele fantastische Geschichten« habe die Frau schon in ihrem Leben anderen aufgetischt. Für die in den Klinikakten dokumentierten Gewalterlebnisse in der Kindheit, für eine Mutter, die als Prostituierte gearbeitet haben soll, gebe es keine Belege. Als glaubhaft beschreibt die Kriminologin und Psychologin jedoch die Aussagen zu den Ereignissen am Abend der mutmaßlichen Vergewaltigung. Die Patientin habe nur kuscheln wollen, sei ihr Eindruck gewesen. Es war deutlich, »dass sie einen entgegenstehenden Willen hatte« und ihren Unmut zeigte.

In der Urteilsbegründung beschreibt Richter Kehrer das Verhältnis als »toxische Verbindung«, »nicht auf Augenhöhe ausgelegt«. Die Psychotherapie habe ohne jeden Zweifel gleichzeitig zu der Beziehung fortgedauert. Was den Vergewaltigungsvorwurf betrifft, seien aber »Restzweifel« geblieben, in diesem Punkt spricht das Gericht den Arzt frei.

Das Strafmaß von zwei Jahren und sechs Monaten kann den Entzug der Approbation nach sich ziehen. Nach dem Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, verschickt die Klinik eine Mitteilung: Der Arzt wird mit sofortiger Wirkung freigestellt und ein Kündigungsverfahren umgehend eingeleitet.

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