AUFHEBUNG DES WEINSTEIN-URTEILS: #METOO – NUR NOCH EIN BEGRIFF DER AN EINER RAUTE KLEBT

Die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Harvey Weinstein müssen neu verhandelt werden. Für Frauen wird es wieder schwieriger, sich zu schützen und sich gegen männliches Dominanzverhalten zu wehren.

Es war ein Aufstand der Frauen, unglaublich mutig, unglaublich wichtig. Doch drohte die Wirkung nachzulassen und verliert jetzt womöglich weiter an Kraft. Am Ende, in einigen Jahren, bleibt von einer großen Bewegung vielleicht nur ein Begriff, der an einer Raute klebt.

Zwar darf nach dem neuartigen Kompositum eine ganze Epoche benannt werden – die »New York Times« spricht von der »#MeToo-Ära«. Vielleicht markiert die Aufhebung eines der Urteile zum Fall Harvey Weinstein aber den Übergang in ein neues, nicht gerade besseres Zeitalter.

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Die Evolution der Gleichberechtigung funktioniert ja so: Nach jeder Errungenschaft für die Frauen verging gern mal eine Ewigkeit bis zu einer weiteren. Manchmal verschlechterte sich die Lage zwischenzeitlich auch deutlich. In Deutschland wurde 1918 endlich das Wahlrecht für Frauen eingeführt, gefordert worden war es ja schon lange vorher. Und dann? Viele Selbstverständlichkeiten ließen erschreckend lange auf sich warten. Erst seit 1997 zum Beispiel ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar, und noch heute ist eine Abtreibung auch in den ersten 12 Wochen eigentlich nicht erlaubt, immerhin ist sie seit 1995 straffrei, wenn bestimmte Prozeduren eingehalten werden. Das alles geht gegen Frauen.

Verhaltensweisen geradezu systemimmanent

Was das mit Weinstein zu tun hat? Neben den Gesetzen gibt es gesellschaftliche Regeln, und die fielen lange zugunsten der Männer aus. Wie über Frauen gesprochen wurde, wie sie behandelt wurden, war überwiegend Männersache. Seltsam, oder?

Der ehemals mächtige Filmproduzent Weinstein steht nun für einen Typus Mann, der dies tatsächlich schamlos ausnutzte und vor eindeutigem Missbrauch nicht zurückschreckte. Sehr lange kam er damit davon, weil eine andere Konvention besagte, dass Frauen besser schweigen.

Irgendwann aber sprachen sie. Das war der Überraschungsmoment, den man #MeToo nannte. Zuerst traute sich eine Reihe von Opfern, von Belästigungen und Übergriffen durch Weinstein zu berichten – bis hin zur Vergewaltigung. Rasch schlossen sich Frauen auf der ganzen Welt dem »IchAuch«-Bekenntnis an, weil sie mit anderen Männern im beruflichen Umfeld Vergleichbares erlebt hatten. Denn das war es ja auch: ein Problem einer Arbeitswelt, in der sich manche zu viel rausnehmen durften, selbst Grenzüberschreitungen schlimmster Art.

Etliche Branchen – darunter die Filmindustrie, überhaupt die Kultur – schienen es Tätern besonders einfach zu machen: Man redete sich raus, dass diese Verhaltensweisen hier geradezu systemimmanent seien, sein müssten. Extreme Abhängigkeitsverhältnisse waren und sind ein Teil des Problems. Das Gefälle war groß, und seit Weinstein konnte niemand mehr den Eindruck erwecken, es gäbe keins. Frauen wüssten doch um den Sinn einer Besetzungscouch. Männer wie Roman Polański konnte man nicht mehr so leicht mit seiner angeblichen Genialität entschuldigen. Denn warum sollte einem erwachsenen Mann sein Beruf – hier der des Regisseurs – Sex mit einem 13 Jahre alten Mädchen erlauben?

Eine Befreiungsbewegung, zumindest in kommunikativer Hinsicht

Insofern war #MeToo eine Befreiungsbewegung, zumindest in kommunikativer Hinsicht, denn es bedeutete das Ende eines ungeschriebenen, aber wirksamen Redeverbots, eines weltweit erzwungenen Schweigegelübdes. Manchen Frauen wurde erst durch die Erfahrungsberichte anderer jetzt bewusst, dass erlebte Grenzüberschreitungen tatsächlich nicht in Ordnung waren. Die Verurteilung von Weinstein war ein Signal über die USA hinaus, dass diese Vorfälle endlich auch im juristischen Sinne ernst genommen wurden. Und dann wurde ja sogar ein Ex-Präsident auf die Anklagebank gesetzt, der die Journalistin und Autorin E. Jean Carroll sexuell missbraucht hatte. Das war zwar kein typischer #MeToo-Sachverhalt, weil die Autorin keine Untergebene in beruflicher Hinsicht war. Aber jemand wie Trump war andererseits immer im Job, immer am Einschüchtern.

Durch die Verurteilung von Weinstein hatte sich etwas gelöst, bewegt. Bei Weitem nicht genug, aber es schien doch ein Anfang zu sein. Wo steht die Bewegung jetzt? Jemand wie Trump kann sich ja trotz eines verurteilten Übergriffs vieler amerikanischer Stimmen sicher sein. Das ist kein gutes Signal, wieder auch über die USA hinaus.

Natürlich soll jeder Angeklagte das Recht auf ein faires Verfahren haben, auf einen Prozess ohne Formfehler. Und Weinstein bleibt wegen eines anderen Urteils ohnehin in Haft.

Aber diese Ungültigkeitserklärung des ersten Urteils, das 23 Jahre Gefängnis vorsah, gibt Anlass zu Sorgen. Denn diese Entscheidung ist ja keineswegs unumstritten, nicht mal unter den zuständigen Richterinnen und Richtern am Höchsten Gericht des Bundesstaates New York.

Bislang vermittelt und verstärkt es nur die Botschaft, dass es für die Frauen wieder schwieriger wird, sich zu schützen, sich zu wehren. Frauen werden auch gleich mit für ungültig erklärt, irgendwie. So dürfte es sich für viele zumindest anfühlen.

Es bleibt zu hoffen, dass das Zeitalter und Kapitel #MeToo doch noch nicht zugeklappt wird. Dabei kommt es auf die Frauen an und noch mehr auf die Männer.

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